Hintergründe der Ausschreitungen
30 Jahre nach dem Brandanschlag sind die politisch-gesellschaftlichen Hintergründe der Tat für viele nicht mehr nachvollziehbar. Für die Einordnung der Geschehnisse und das Verständnis für rassistische Kontinuitäten in unserer Gesellschaft sind sie jedoch von großer Bedeutung. Kurze Zeit nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung fand sich die Bundesrepublik in einer öffentlichen Auseinandersetzung über die deutsche Identität und Fragen der Zugehörigkeit zu Deutschland wieder. Vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Asylbewerber/innen, die Ende der 1980er Jahre im Zuge gewalttätiger Konflikte in vielen Teilen der Erde und wenig später ausgelöst durch den Bürgerkrieg in Jugoslawien nach Deutschland zogen, entwickelte sich schnell eine umfassende Asyldebatte. Die Einwanderung von Schutzsuchenden und anderen Menschen mit internationaler Familiengeschichte wurde von einflussreichen Medien skandalisiert und in der Politik vor allem als Problem diskutiert. Aus dem so genannten „Asylantenproblem“ wurde bald ein „Ausländerproblem“ – die unmissverständliche Botschaft „Das Boot ist voll“ wurde von zahlreichen Medien aufgegriffen. In einer fatalen Umkehr von Tätern und Opfern wurde die Ursache der rassistischen Anschläge auf die hohe Zahl von Asylsuchenden zurückgeführt. Die Lösung des Problems wurde in der Begrenzung von Einwanderung und letztendlich in der Beschneidung des Grundrechts auf Asyl am 26. Mai 1993 gesehen. Die rechtsextreme Szene verbuchte die Asylgesetzänderung als Sieg für sich und fühlte sich in ihrem menschenverachtenden Handeln bestärkt. Nur wenige Tage nach der Asylrechtsänderung brannte das Haus von Familie Genç.
Eine angemessene Reaktion der Politik, der Medien und auch der Strafverfolgung auf die rassistischen Ausschreitungen blieb weitestgehend aus. Es wäre zu erwarten gewesen, sich unmissverständlich auf die Seite der Opfer zu stellen, ihnen den Rücken zu stärken und deutlich zu signalisieren, dass Menschen mit internationaler Familiengeschichte ihren gleichberechtigten Platz in der Mitte der Gesellschaft haben. Rassismus hätte eine klare Absage erteilt werden müssen. Doch es erfolgte kein Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft, stattdessen wurde von der Bundesregierung noch jahrelang bestritten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Nach wie vor wurde auf die „Rückkehr“ der Migrantinnen und Migranten in ihr Herkunftsland und die Vorstellung einer homogenen Bevölkerung gesetzt. Vielfach wurden Eingewanderte selbst als Grund für die Ausschreitungen dargestellt.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es auch ermutigende Reaktionen gab. Der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, besuchte umgehend den Tatort. Bundespräsident Richard von Weizäcker sprach sich für die doppelte Staatsbürgerschaft aus. Etliche zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Kölner Bürgerbewegung „Arsch Huh“ wurden ins Leben gerufen. Es folgten zahlreiche runde Tische gegen Ausländerfeindlichkeit, die mit ihren Aktivitäten versuchten, Einfluss auf das Geschehen im Land zu nehmen. Nichtsdestotrotz beförderte das überwiegend einwanderungsfeindliche politische und gesellschaftliche Klima in den 1990er Jahren die Festigung und Radikalisierung rechtsextremer Gruppierungen, die sich immer seltener in Parteien oder Vereinen und zunehmend in informellen Strukturen organisierten. Wenig überraschend erscheint daher aus heutiger Sicht, dass diese Ereignisse bei der Entstehung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) entscheidend gewesen sind.