Die aktuellen Ereignisse in Hanau sind eine Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte. Der Anschlag auf neun Menschen mit Einwanderungsgeschichte, zeigt einmal mehr, die rechtsextremistische Gefährdungslage. Das umfassende Staatsversagen im NSU Verfahren hat maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Eine lebendige und aufrichtige Erinnerungskultur kann einen Beitrag zur Überwindung dieser Ereignisse leisten.

„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann“ (Angela Merkel). Mit der Kampagne „10+1 Bäume für die Opfer des NSU“ und die Opfer von Hanau ruft der Landesintegrationsrat NRW die Integrationsräte dazu auf, sich in ihren Kommunen für ein vielfältiges, friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben einzusetzen. Dabei sollen die Kommunen gebeten werden, einen Erinnerungsort zu errichten, der aus elf neu angepflanzten Bäumen besteht. Die Zahl elf ergibt sich aus zehn Bäumen für die zehn Opfer des NSU, den einen Baum widmen wir allen genannten und ungenannten Opfern rassistischer Gewalt. Eine Gedenktafel soll über die Bedeutung des Mahnmals aufklären. Die elf gepflanzten Bäume verdeutlichen die Dimension dieser Verbrechen visuell. Gleichzeitig soll der Erinnerungsort ein starkes Signal des Widerstands der Kommune gegen den rechtsextremistischen Terror senden.

In jüngster Zeit wurden immer wieder Erinnerungsstätten für die Opfer der Terrorvereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter geschändet bzw. zerstört. Das Abholzen eines Baumes, der an den Mord an Enver Şimşek erinnern sollte, sorgte bundesweit für Schlagzeilen.

Den Morden, die von der rechtsextremistischen Terrorzelle NSU begangen worden waren, wurde aufgrund rassistischer Denkstrukturen nicht mit lückenloser Aufklärung begegnet. Die Ermittlungsbehörden gingen gar davon aus, dass die Taten nicht von Deutschen verübt worden sein könnten. Vielmehr wurden die Familien der Opfer verdächtigt. Die Polizei ermittelte gegen die Angehörigen der Ermordeten und die Medien verhöhnten die Opfer, indem sie die Taten als „Döner-Morde“ etikettierten. Besonders erschreckend ist, dass der Verfassungsschutz allem Anschein nach über die Verbrechen informiert und teilweise involviert war. Auch die Ermittlungen zu den NSU-Verbrechen ließen viele Fragen über die Hintergründe offen. Insbesondere ignorierte das Gericht die Rolle der rechtsradikalen Netzwerke und ihrer Hintermänner. Im Sommer 2018 erfolgte schließlich die Urteilsverkündung im NSU-Prozess, die weder für Opfer und Hinterbliebene noch für die demokratisch gesinnte Bevölkerung zufriedenstellend ist.

Ein Rückblick auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte weist darauf hin, dass wir begünstigende Umstände für die Verbreitung von Rassismus hatten. Dies wird insbesondere im Hinblick auf das Thema Migration deutlich. Die politische Diskussion der Nachwendezeit wurde von einer nahezu hysterisch geführten Debatte um Flüchtlinge und Einwanderung beherrscht und ging mit einer Welle rassistischer Gewalt in deutschen Städten einher. Die rassistischen Mordanschläge in Hoyerswerda, Rostock und Mölln wurden seitens der Politik kaum beachtet. Die Ignoranz gegenüber diesen Verbrechen hat der Entwicklung des Rassismus in Deutschland Vorschub geleistet. Der traurige Höhepunkt dieser Ereignisse war der Brandanschlag auf das Wohnhaus von Familie Genç in Solingen, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl weigerte sich, die Hinterbliebenen des Brandanschlages aufzusuchen, mit dem Hinweis keinen „Beileidstourismus“ betreiben zu wollen. Zum damaligen Zeitpunkt wäre ein klares Bekenntnis, dass die Migrantinnen und Migranten selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sind, dringend notwendig gewesen. Ein politisches Signal, beispielsweise die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft oder des kommunalen Wahlrechts für alle Menschen mit Migrationshintergrund, hätte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland keinen Platz mehr haben.

Nicht erst seit dem antisemitisch motivierten Terroranschlag in Halle an der Saale und dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke offenbart sich mehr und mehr die Gefahr rassistischer Denkweisen und rechtsextremenTerrors. Menschenverachtende Hetze verbreitet sich via Internet, Morddrohungen werden gegen Aktivisten/ innen, Politiker/innen und Opfer-Anwälte und Anwältinnen ausgesprochen. Immer wieder werden Hinweise auf rechtsextremistische Verflechtungen in staatliche Institutionen wie Polizei und Bundeswehr hinein bekannt.

Es ist dringend an der Zeit dieser Entwicklung entgegenzutreten und ein Zeichen zu setzen. Es gilt deutlich Position zu beziehen gegen die Gefahr des rechten Terrors, dessen Akteure immer skrupelloser, und scheinbar von staatlicher Seite ungebremst, agieren. Wir alle dürfen den Kahlschlag an unseren gemeinsamen menschlichen Werten nicht länger hinnehmen! Alle Kommunen NRWs sind dazu aufgerufen der menschenverachtenden Gefahr durch Pflanzung der 10+1 Bäume zu begegnen. Die Pflege der Bäume kann durch Patenschaften gesichert werden. Beispielsweise können Schulen, die dem Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ angehören, die Verantwortung für die Betreuung der Bäume übernehmen. Auch Bürgerinitiativen, kommunale Ämter oder Privatpersonen kommen als Paten in Frage.

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