NRW-Verfassungskommission präsentiert Vorschläge
9. Mai 2016Neue Publikation: Der Brandanschlag in Solingen und seine Wahrnehmung durch die zweite Generation von türkischstämmigen Migranten
22. Juni 2016Positionspapier des Hauptausschusses des Landesintegrationsrates NRW vom 21.05.2016
Die natürliche Mehrsprachigkeit ist ein großer Reichtum, von dem alle etwas haben, sowohl Kinder und Jugendliche als auch unser Land. Es wäre sehr kurzsichtig, diese Chance außer Acht zu lassen. Angesichts des demographischen Wandels unserer Zuwanderungsgesellschaft und im Hinblick auf die fortschreitende Globalisierung wäre es geradezu unzeitgemäß und kontraproduktiv.
Im 19. Jahrhundert waren Zuwanderer/innen (z.B. aus Polen) noch dazu gezwungen, ihre Herkunftssprachen zu vergessen und künftig ausschließlich deutsch zu sprechen. In heutigen Zeiten des Internets und Satellitenfernsehens, des schnellen und preiswerten Reisens und vor allem der wirtschaftlichen Globalisierung bleiben die Herkunftssprachen in ganz anderer Weise aktuell und bereichern das gesellschaftliche Leben. Verbote, die Muttersprache zu sprechen, sind anachronistische Zurückweisungen zugewanderter Menschen.
In einer OECD-Studie aus dem Jahr 2015 schneidet Deutschland im Ländervergleich schlecht ab bei der Frage, ob es Schüler/innen mit Migrationshintergrund in der Schule möglich ist, in ihrer Herkunftssprache unterrichtet zu werden. Mehrsprachigkeit auf der Grundlage der natürlichen Herkunftssprachen zu fördern, ist ein auf die Zukunft ausgerichtetes Gebot der Stunde – folgende Gründe sprechen dafür:
1. Die Schulen sind heute bereits mehrsprachig – dieser Vorteil muss genutzt werden
In den Schulklassen lernen heute gemeinsam Schüler/innen, die Deutsch, Türkisch, Polnisch, Italienisch, Russisch, Arabisch oder viele andere Sprachen als Muttersprache sprechen. Diese vielsprachige Realität in den Schulen bildet die natürliche Ausgangslage des sprachlichen Lernens. Die Bildungseinrichtungen müssen diese Sprachenrealität aktiv nutzen und die von den Kindern und Jugendlichen mitgebrachten Sprachpotentiale fördern.
Für das einsprachig aufgewachsene deutschsprachige Kind ist die Beschäftigung mit dieser lebendigen Mehrsprachigkeit in Kindergarten und Schule ein authentischer und sehr praktischer Zugang zum Fremdsprachenlernen. Dieses beiläufige Mitlernen der von Freund/innen gesprochenen Sprachen ist dem Kind wesentlich näher als das Erlernen der eher selten hier muttersprachlich genutzten Sprachen Englisch oder Französisch.
2. Eine Förderung der Herkunftssprache begünstigt das Erlernen der deutschen Sprache
In verschiedenen Studien (Roth u.a. ) wird nachgewiesen, dass eine differenzierte (schriftliche) Beherrschung der Herkunftssprachen die beste Voraussetzung für das Erlernen einer Zweitsprache (z.B. Deutsch) ist. Eine schlechte Beherrschung der Herkunfts-sprachen behindert das das qualifizierte Erlernen einer Zweitsprache. Schüler/innen, die ihre muttersprachliche Entwicklung nicht vervollkommnen und über schlechte Herkunftssprachenkenntnisse verfügen, haben auch schlechte Deutschkenntnisse.
3. Frühe Mehrsprachigkeit überfordert Kinder entgegen landläufiger Meinung nicht (Riehl u.a.)
Von Anfang an mehrsprachig orientierte Menschen erwerben ein differenziertes Bewusstsein von Sprache und verfügen dadurch über eine andere und weniger regelorientierte Art beim Erlernen weiterer Sprachen (Sprachlernerfahrung).
Der simultane Erwerb von zwei Sprachen fördert zudem die kognitive Entwicklung des Kindes.
4. Die Förderung der Herkunftssprachen verbessert die Chancen auf bessere Schulabschlüsse
Untersuchungen (Jim Cummins u.a. ) belegen, dass eine Förderung der vorhandenen Mehrsprachigkeit bei Kindern die sicherste Methode ist, diesen einen guten Schulabschluss zu ermöglichen. In Köln hat Prof. Dr. Hans-Joachim Roth von der Universität zu Köln das bilinguale Lernen an der italienisch-deutschen Grundschule Zugweg in Köln evaluiert. Die Untersuchung weist nach, dass durch die Einführung eines bilingualen Zweiges der Anteil der Schulempfehlungen an Gesamtschulen von 16% auf 35% und an Gymnasien von 15% auf 25% gestiegen ist. Gleichzeitig sank der Anteil von Empfehlungen an die Hauptschule von 40% auf 20%. An einer bilingualen Grundschule deutsch/türkisch in Köln-Bilderstöckchen hat sich der Anteil von Gymnasialempfehlungen nach der Einführung des zweisprachigen Unterrichts verdoppelt.
5. Die mehrsprachige Kompetenz ist in der weltweiten Wirtschaft eine zentrale Qualifikation
Die Kompetenz, eine zusätzliche Fremdsprache zu sprechen, ist eine der zentralen Wirt-schaftsressourcen. Mehrsprachig aufgewachsene Menschen besitzen ein starkes meta-sprachliches Bewusstsein, das ihnen auch das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert.
Mehrsprachig geprägte Menschen sind darüber hinaus – auch wenn sie die Sprache des Gegenübers nicht sprechen – interkulturell kompetent, d.h. sie sind sensibel dafür, sich in andere Kulturen und Denkweisen hineinversetzen zu können – sie haben eine multi-kulturelle Identität und sind flexibler im interkulturellen Agieren. Es ist schwer nachvoll-ziehbar, wenn in den Schulen der Effekt der Bildung eines frühen metasprachlichen Be-wusstseins durch eine frühe Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit nicht genutzt wird, um dann später viel Mühe und Geld zur Vermittlung von Fremdsprachen zu inves-tieren.
6. Die Wertschätzung der Herkunftssprache ist ein zentrales Element menschlicher Identität
Für eine erfolgreiche Integration ist die gesellschaftliche Anerkennung dieser Identität des Individuums eine äußerst wichtige Voraussetzung. Die Herkunftssprache ist elemen-tarer Ausdruck kultureller Identität und Zugehörigkeit eines Menschen. Die Wertschät-zung der Sprache ist gleichzeitig die Wertschätzung des Menschen, der sie spricht, und der Kultur, in der die Sprache entstanden ist. Das bisherige Dogma, „hier wird deutsch gesprochen“, bei Eintritt des Kindes in Kindergarten oder Grundschule ist ein grober pädagogischer Fehler und verletzt die kindliche Seele und Identität zutiefst. Die ‚erste Sprache‘, die ein Kind erwirbt, ist immer seine ‚natürliche‘ Sprache. Ein Verbot der Nutzung dieser Sprache ist ein ‚Angriff‘ auf die persönliche Identität – ein Willkommen der Famili-ensprache stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung des Kindes.
Mehrsprachige Kinder müssen eine Anerkennung für ihre sprachlichen Kompetenzen er-fahren und dürfen nicht auf ein ‚Kind mit Sprachdefiziten in der deutschen Sprache‘ reduziert werden. Menschen mit Migrationshintergrund sind ‚bilinguale interkulturelle Wesen‘ – wenn dies vom Bildungssystem berücksichtigt wird, können sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte besser einbringen – dies kann die Gesellschaft stärken und ein auseinanderbrechen verhindern.
7. Die Förderung der Mehrsprachigkeit ist ein zentrales Mittel gegen den Rassismus
Die bewusste Akzeptanz einer nichtdeutschen Sprache ist ein Mittel gegen die Ausgrenzung ihrer Sprecher/innen. Sie wendet sich gegen das gesellschaftliche Ranking von Sprachen und damit auch ihrer Sprecher/innen. Die Gleichberechtigung von Sprachen trägt auch zur Gleichberechtigung der sie sprechenden Menschen bei. Mehrsprachige Kindertagesstätten und Schulen bilden ein positives Gegengewicht zu dem noch verbreiteten ‚monolingualen Habitus‘ (Prof. Dr. Dr. h.c. Ingrid Gogolin ) vieler Bildungseinrichtungen und der einseitigen Förderung weniger Prestige-Sprachen.
8. Rechtliche Hinweise zur Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit
– Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW (2012) § 2, Abs. 3: „Das Erlernen der deutschen Sprache ist für das Gelingen der Integration von zentraler Bedeutung und wird daher gefördert. (…) Die Wertschätzung der natürlichen Mehrsprachigkeit ist ebenfalls von besonderer Bedeutung.“
– Kinderbildungsgesetz NRW (KiBiz), SGB VIII (2014) § 13c / Abs. 1, Satz 3+4: „Die Mehr-sprachigkeit von Kindern ist anzuerkennen und zu fördern. Sie kann auch durch die Förderung in bilingualen Kindertageseinrichtungen oder bilingualer Kindertagespflege unterstützt werden.“
– Gesetz über den ‚Westdeutschen Rundfunk Köln‘ (WDR – Gesetz) (2016) § 4, Abs. 2, Satz 4: „Das Programm soll das friedliche und gleichberechtigte Miteinander der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen im Land fördern und diese Vielfalt in konstruktiver Form abbilden.“
– Die EU-Kommission hat in ihrem „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung“ von 1995 die Forderung formuliert, dass alle Schulabgänger/innen drei Gemeinschaftssprachen beherrschen sollen und dass demzufolge Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Schulzeit außer ihrer Erstsprache noch mindestens zwei weitere Sprachen lernen. Das kann z.B. bedeuten: Deutsch als die Landessprache; als zweite Sprache die Herkunftssprache und Englisch als Weltsprache. Wenn in diese sprachenpolitische EU-Vorgabe die jeweils nichtdeutschen Herkunftssprachen eingebunden werden, dann haben die Schulen eine Perspektive, die den Anforderungen einer Migrationsgesellschaft entspricht.