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20. März 2019Älteren Menschen mit Migrationsgeschichte den Zugang zu Pflege- und Altenhilfe erleichtern und ihre Lebensleistung würdigen
22. März 2019Eine irreführende Schlagzeile führt zu einer uferlosen öffentlichen Debatte
Erklärung des Vorsitzenden des Landesintegrationsrates NRW, Tayfun Keltek
Düsseldorf, März 2019
Im Zusammenhang mit den Überlegungen der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zur Streichung des Englischunterrichtes in den ersten beiden Grundschuljahren habe ich als Vorsitzender des Landesintegrationsrates NRW dem Kölner Stadt-Anzeiger für die Ausgabe am 08.02.2019 ein Interview gegeben. Darin habe ich mich für die vollständige Abschaffung des Englischunterrichtes an Grundschulen ausgesprochen. Gleichzeitig habe ich mit Bezug auf das Bildungsprogramm des Landesintegrationsrates angeregt, frei werdende Ressourcen zu nutzen, um das natürliche Sprachpotential der Grundschulkinder aufzugreifen und sie durch gezielte Förderung ihrer mitgebrachten und täglich genutzten Herkunfts- oder Familiensprachen zu unterstützen. Ich habe auch ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass auf diesem Weg das Deutschlernen erleichtert werden kann. Prof. Haci-Halil Uslucan von der Universität Duisburg-Essen und Mitglied der Jury für Talentschulen unterstützt diesen Gedanken als „gutes Signal, was die Wertschätzung von natürlicher Mehrsprachigkeit betrifft“ (selbiger Artikel im KSTA vom 08.02.2019).
Der Kölner Stadt-Anzeiger betitelte den Artikel zum Interview mit „Türkisch statt Englisch an Grundschulen“. Hierdurch entstand der Eindruck, dass es mir lediglich um eine Förderung der türkischen Sprache zulasten des Englischen geht. Anschließend kam es zu weiteren Zuspitzungen und Verzerrungen meiner Aussagen in einer Vielzahl von Print- und Onlinemedien sowie in den sozialen Netzwerken. In Telefongesprächen, E-Mails und Briefen wurde ich als „türkischer Nationalist“ oder „Islamist“ diffamiert. Diese, teils auch rassistischen Zuschreibungen haben die öffentliche Debatte befeuert und in eine völlig falsche Richtung gelenkt.
Ich möchte deshalb noch einmal darstellen, worum es mir im Interview bzw. in der Debatte über Englischunterricht an Grundschulen geht. Als ehemaliger Lehrer an einer Realschule und langjährig in der Integrationspolitik unseres Landes NRW Engagierter möchte ich,
• dass sich die Schulerfolge aller Kinder verbessern, indem sie gemäß ihren Kompetenzen gefördert werden. Der schulische Unterricht muss sich an den individuellen Potentialen der Schülerinnen und Schüler orientieren.
• dass der qualifizierte Erwerb der deutschen Sprache durch den schriftsprachlichen Ausbau der Herkunftssprache der Kinder unterstützt wird.
• dass auf diesem Weg auch eine Anerkennung der „Herkunftsidentität“ erfolgt, d.h. ein respektvoller und wertschätzender Umgang mit den kulturellen und sprachlichen Eigenschaften der Kinder mit Migrationshintergrund.
• dass die Weltsprache Englisch den Kindern zum pädagogisch richtigen Zeitpunkt vermittelt wird, nämlich dann, wenn die Kinder ihre Herkunfts- bzw. Familiensprache und Deutsch richtig lesen und schreiben können.
Deshalb gilt für mich grundsätzlich:
- Deutsch ist selbstverständlich die erste und wichtigste Sprache des Zusammenlebens in Deutschland – Diese Tatsache habe ich nie infrage gestellt. Deutsch muss von allen Menschen, die in Deutschland leben, mündlich und schriftlich richtig gelernt werden!
- Alle Sprachen sind gleich wertvoll – keine Sprache ist besser oder schlechter als die andere. Denn hinter jeder Sprache steht ein Mensch, der wertzuschätzen und eine Kultur, die zu respektieren ist! Wer seine Herkunftssprache spricht, nutzt seine sprachlichen Potentiale und kulturellen Eigenschaften. Das bedeutet keinesfalls Distanz zu Deutschland. Daher gibt es auch keinen Zusammenhang zwischen dem Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland und dem Gebrauch der Herkunftssprache.
- Die am weitesten verbreitete Weltsprache ist Englisch – sie muss als 1. Fremdsprache ab der 5. Klasse in allen Schulformen unterrichtet werden.
Zur Begründung
Gesellschaften sind ständig im Wandel, dies trifft auf Einwanderungsländer wie Deutschland in besonderer Weise zu. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, der von internationaler Vernetzung, wirtschaftlicher Globalisierung und weltweiter Migration geprägt ist. Diesen Prozess gilt es, konstruktiv zu gestalten und Fähigkeiten von eingewanderten Menschen zu nutzen. Dabei geht es um Wertschätzung und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch um Möglichkeiten für die Gesamtgesellschaft und Chancen für den internationalen Wirtschaftsstandort Deutschland. Es muss also die Aufgabe von Einwanderungsgesellschaften sein, Potentiale von mehrsprachigen Einwohnerinnen und Einwohnern aufzunehmen und zu fördern.
Abschied von Assimilationskonzepten
Waren in den 50er Jahren die Kinder in den Kindergärten und Schulen noch in aller Regel einsprachig, gibt es seit den 70er Jahren zunehmend Klassen, in denen neben Deutsch eine oder mehrere Sprachen von immer mehr Kindern gesprochen werden. Diese Vielsprachigkeit hat sich durch stetige Einwanderung rasant erweitert und heute ist Zwei- und Mehrsprachigkeit alltägliche Realität bei einer großen Zahl der Schülerinnen und Schüler. Die Erwartung, dass Menschen mit Migrationshintergrund in der zweiten oder dritten Generation ihre Herkunftssprache vollständig ablegen, ist heute in Zeiten des Internets, der Videotelefonie und des preiswerten Reisens eine Illusion. Die Weitergabe und Pflege der Sprache der Eltern ist ein natürlicher Prozess und durch den unkomplizierten Zugang zu Sprache in der globalisierten Welt enorm erleichtert. Diese gesellschaftliche Realität gilt es, zum Wohle aller zu gestalten.
Strategien zur Förderung von Mehrsprachigkeit (weiter) zu entwickeln und auf Dauer anzulegen, ist dringend notwendig. Voraussetzung dafür ist ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Vorstellungen von Assimilation überkommen sind und keine zukunftsfähigen Konzepte für eine moderne Einwanderungsgesellschaft bieten. Es muss klar sein, dass Forderungen an Einwanderinnen und Einwanderer, ihre Herkunftssprache „zu vergessen“, um Deutsch zu lernen, der Vergangenheit angehören. Wissenschaftler/innen aus dem Bereich der Sprachpädagogik und -didaktik sowie der Hirnforschung belegen diese Aussage und geben Hinweise zur Gestaltung des Lernens in mehrsprachigen Gesellschaften. Die Berücksichtigung und Förderung der Herkunftssprache vom Kindergarten bis zum Schulabschluss sind wichtige Faktoren des sprachlichen Lernens.
Zahlen und Fakten
5,8 % der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens haben einen Migrationshintergrund. Bei den 3- bis unter 6-Jährigen sind es sogar deutlich mehr (41,3 %). Im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (13,7 %) ist der Anteil der Personen unter 18 Jahre bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wesentlich höher (25,2 %). Dabei gibt es regional große Unterschiede und den größten Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund weisen die urbanen Gegenden und Ballungsgebiete auf.
So liegt der Anteil an unter 20jährigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Städten mit über 100.000 Einwohner/innen bei 50% oder mehr. Bei Kindern mit Migrationshintergrund im Einschulungsalter liegt er in Ballungsgebieten bereits bei 60-70 %.
Quellen: 6. Kommentierte Zuwanderungs- und Integrationsstatistik Nordrhein-Westfalen. Ausgabe 2017; Präsentation zum Vortrag von C. Bainski im MKFFI am 07.03.2019
Bildung und Mehrsprachigkeit im politischen Aufgabenfeld des Landesintegrationsrates NRW
Seit seiner Gründung im Jahr 1996 stellen Bildungschancen von Menschen mit Migrationshintergrund einen der zentralen Themenschwerpunkte des Landesintegrationsrates NRW dar. In zahlreichen Veranstaltungen, Positionspapieren, Stellungnahmen und weiteren Publikationen haben wir uns systematisch mit der kulturellen Vielfalt und den sprachlichen Potentialen in unserer Einwanderungsgesellschaft auseinandergesetzt und Anregungen für einen konstruktiven Umgang damit gegeben.
Eine der zentralen Veröffentlichungen zu diesen Themen ist das vom Hauptausschuss des Landesintegrationsrates NRW im Mai 2016 beschlossene Positionspapier mit dem Titel „Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen“ . Darin heißt es:
• Die Schulen sind heute bereits mehrsprachig – dieser Vorteil muss genutzt werden. In den Schulklassen lernen heute gemeinsam Schüler/innen, die Deutsch, Arabisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Türkisch oder viele andere Sprachen als Muttersprache sprechen. Diese vielsprachige Realität in den Schulen bildet die natürliche Ausgangslage des sprachlichen Lernens.
• Eine Förderung der Herkunftssprache begünstigt das Erlernen der deutschen Sprache. In verschiedenen Studien (Roth u.a. ) wird nachgewiesen, dass eine differenzierte (schriftliche) Beherrschung der Herkunftssprachen die beste Voraussetzung für das Erlernen einer Zweitsprache (z.B. Deutsch) ist.
• Die Förderung der Herkunftssprachen verbessert die Chancen auf bessere Schulabschlüsse. Untersuchungen (Jim Cummins u.a. ) belegen, dass eine Förderung der vorhandenen Mehrsprachigkeit bei Kindern die sicherste Methode ist, diesen einen guten Schulabschluss zu ermöglichen. In Köln hat Prof. Dr. Hans-Joachim Roth von der Universität zu Köln das bilinguale Lernen an der italienisch-deutschen Grundschule Zugweg in Köln evaluiert. Die Untersuchung weist nach, dass durch die Einführung eines bilingualen Zweiges der Anteil der Schulempfehlungen an Gesamtschulen von 16% auf 35% und an Gymnasien von 15% auf 25% gestiegen ist. Gleichzeitig sank der Anteil von Empfehlungen an die Hauptschule von 40% auf 20%.
• Die mehrsprachige Kompetenz ist in der weltweiten Wirtschaft eine zentrale Qualifikation. Die Kompetenz, eine zusätzliche Fremdsprache zu sprechen, ist eine der zentralen Wirtschaftsressourcen. Mehrsprachig aufgewachsene Menschen besitzen ein starkes metasprachliches Bewusstsein, das ihnen auch das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert.
Der konstruktive und wertschätzende Umgang mit Mehrsprachigkeit stellt gerade Schulen und Kindertagesstätten vor Herausforderungen. Schon länger existieren in NRW eine Reihe von sprachdidaktischen Konzepten wie KOALA („Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunterricht“ bzw. „Koordiniertes zweisprachiges Lernen“), die zeigen, wie der schulische Sprachunterricht an der natürlichen Zweisprachigkeit orientiert gestaltet werden kann. Es gilt, diese Konzepte zu unterstützen, weiterzuentwickeln und in die Fläche zu bringen.
Bezogen auf die ersten Schuljahre, die Kinder in der Grundschule absolvieren, sollten bilinguale Alphabetisierungskonzepte angewendet werden, die einen derartigen qualifizierten Sprachenerwerb in Deutsch und in einer Herkunftssprache sicherstellen. Die Sprachkenntnisse, die die Kinder auf diesem Weg gewinnen, übersteigen den rudimentären Wortschatz, der durch Englischunterricht in der Grundschule erworben werden kann. Zugleich bilden sie eine hervorragende Basis für das Erlernen der englischen Sprache ab der 5. Klasse. Auch weitere Fremdsprachen werden leichter erworben, allerdings ist es sinnvoll, den Schüler/innen mit Migrationshintergrund zu ermöglichen, ihre Herkunftssprache als zweite Fremdsprache zu wählen. Somit würde der qualifizierte Sprachenerwerb nicht bereits nach der 4. Klasse beendet und ein hohes Sprachniveau ermöglicht werden.
Die mehrsprachige schulische Realität bietet auch Kindern ohne Migrationshintergrund, die von ihrem Elternhaus her monolingual aufwachsen, gleichzeitig die Möglichkeit, lebensnah und alltagstauglich von muttersprachlichen Lehrern/innen und gemeinsam mit muttersprachlichen Mitschülern/innen eine Fremdsprache wie z.B. Italienisch zu erlernen. Eingebettet in ein natürliches Sprachenumfeld wird den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, das Erlernte unmittelbar und auch außerhalb der Schule anzuwenden. Dies erleichtert das Lernen beträchtlich und ist mit mehr Spaß verbunden.
Die Förderung der Herkunftssprachen und ihre Bedeutung für die Integrationspolitik
Es geht aber um mehr, als nur ums Sprachenlernen. Kinder mit Migrationshintergrund schneiden in der Schule deutlich schlechter ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Migrationshintergrund. Mangelnde Kenntnisse der deutschen Sprachen werden als einer der Hauptgründe für die unbefriedigenden Leistungen genannt. Diese Tatsache ist schon lange bekannt und wird in Bildungsberichten regelmäßig bedauert. Wirksame Maßnahmen, um an dieser Situation etwas zu ändern, wurden jedoch nicht eingeleitet. Der Landesintegrationsrat hat bereits 2001 nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie in einer Publikation Probleme benannt und Lösungsansätze aufgezeigt:
„Bei der Betrachtung der Ergebnisse drängt sich ein grundlegendes Problem auf: Insgesamt gibt es in unserem Bildungswesen keinen intelligenten Umgang mit Heterogenität. Kinder und Jugendliche in Deutschland haben sehr unterschiedliche Fähigkeiten, Interessen, Lerntempos, kulturelle Hintergründe, Muttersprachen oder Sprachkenntnisse in der deutschen Sprache.
[…] Die Erfahrung zeigt, dass schulisches Lernen nur in der deutschen Sprache ohne Koordinierung mit der Muttersprache eine der wesentlichen Ursachen für den mangelnden Schulerfolg von Migranten ist. Eine aufeinander abgestimmte sprachliche Entwicklung zwischen deutschem Regelunterricht und reformiertem Muttersprachlichen Unterricht entsprechend den neuen Richtlinien für den MSU ist dringend notwendig.“
Im Jahr 2018 wurden in einer Sonderauswertung der PISA-Ergebnisse von 2015 Angaben zur Zufriedenheit von Migrantenkindern gemacht. Einen Artikel zum Thema vom 19. März 2018 betitelte die Süddeutsche Zeitung folgendermaßen: „Viele Kinder mit Migrationshintergrund sind unglücklich an deutschen Schulen.“ Denn es wurde festgestellt, dass Schüler/innen mit Migrationshintergrund eher das Gefühl haben, in der Schule nicht dazuzugehören. Sie haben häufiger schulbezogene Ängste und sind weniger zufrieden mit ihrem Leben als Schüler/innen ohne Migrationshintergrund.
Es müssen endlich Reaktionen auf die schulische Situation von Migrantenkindern erfolgen, die gewährleisten, dass diese Kinder ihren Platz in der Mitte der Schülerschaft finden, ihre Deutschkenntnisse verbessern und sich ihre Schulerfolge denen der anderen Kinder angleichen. In einem Kommentar zur Sonderauswertung macht der Landesintegrationsrat die Zusammenhänge zwischen dem fehlenden Einbezug der Herkunftssprachen auf der einen Seite und schlechten Schulnoten sowie wenig Zugehörigkeitsgefühl auf der anderen deutlich. Im Fazit heißt es:
„Es muss auch verhindert werden, dass sich junge Migrantinnen und Migranten von dieser Gesellschaft abwenden, weil sie sich nicht verstanden fühlen, und sich Anerkennung an anderer Stelle holen. Dazu muss die Schule ihren eigenen Beitrag leisten, aber darüber hinaus ist in dieser Frage die gesamte Gesellschaft gefordert, sie muss deutliche Signale aussenden.“
Es gilt also, auch weitergehende integrationspolitische Aspekte zu beachten. Je mehr die Kinder mit Migrationshintergrund das Gefühl haben, dass ihre kulturellen Eigenschaften und sprachlichen Fähigkeiten akzeptiert und sogar gefördert werden, desto verbundener werden sie sich mit Deutschland fühlen und desto weniger anfällig sind sie für ausländische Einflüsse. So stellte auch welt.de in einem Artikel am 16.02.2019 fest: „Mehr Türkisch an deutschen Schulen könnte auf weniger Einfluss des türkischen Staates hinauslaufen.“ Praktische Ansätze
Praktische Ansätze
Kindertagesstätten:
• Alle Sprachen, die von Kindern in Kitas gesprochen werden, müssen willkommen sein. Das regelrechte Untersagen der Nutzung von anderen Sprachen als Deutsch darf es nicht geben. Es sind stattdessen Konzepte gefragt, wie konstruktiv mit der Mehrsprachigkeit in Kitas umgegangen wird. So gibt es beispielsweise in Köln ca. 40 Kindertagesstätten mit herkunftssprachlich bilingualen Sprachkonzepten u.a. in Deutsch-Italienisch, Deutsch-Russisch und Deutsch-Türkisch. Auf Wunsch der Eltern werden Gruppen gebildet, die nach der Immersionsmethode (1 Person = 1 Sprache) arbeiten. Eine Erzieherin spricht konsequent Deutsch und eine andere konsequent die Herkunftssprache der Kinder.
Grundschulen:
• KOALA ist ein bewährtes Konzept für die Grundschule, in dem der Regelunterricht und der herkunftssprachliche Unterricht koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. In mehreren Wochenstunden unterrichten Klassenlehrer und Lehrer für Herkunftssprachen parallel im Team-Teaching Deutsch und eine Herkunftssprache. Beide Sprachen sind Unterrichtssprache und werden strukturiert gegenübergestellt (kontrastives Lernen – man lernt über die deutsche Sprache, in dem man sie mit einer anderen vergleicht). Die Kinder entwickeln dadurch Sprachlernstrategien auf der Grundlage ihrer Familiensprache. Respektvoller Umgang mit kultureller und sprachlicher Verschiedenheit ist ein natürliches Nebenprodukt. Dieses Angebot hängt von den jeweiligen sprachlichen Ressourcen des Lehrerkollegiums ab. Schon heute ist festzustellen, dass zunehmend mehr Lehrkräfte mit Einwanderungsgeschichte und Fremdsprachenkenntnissen in Schuldienst tätig sind.
• Der sogenannte Herkunftssprachliche Unterricht (HSU) ist ein Angebot des Landes NRW, der in der Primarstufe und in den Schulen der Sekundarstufe I erteilt wird. Ziel ist es laut Erlass des Schulministeriums, die herkunftssprachlichen Fähigkeiten in Wort und Schrift zu erhalten, zu erweitern und wichtige interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln. HSU wird eingerichtet, wenn in der Primarstufe mindestens 15 und in der Sekundarstufe I mindestens 18 Schülerinnen und Schüler mit derselben Herkunftssprache angemeldet werden. Die im herkunftssprachlichen Unterricht erteilte Leistungsnote wird in das Zeugnis unter Bemerkungen aufgenommen.
Der HSU wird seit Jahren an vielen Kölner Schulen als Zusatzangebot ermöglicht. Aktuell wird in Köln an 106 Grundschulen Türkisch angeboten (3/4 aller Kölner Grundschulen), an 14 Grundschulen Italienisch, an 8 Grundschulen Arabisch und an 6 Grundschulen Russisch.
• Die ‚Staatlichen Europaschulen in Berlin‘ bieten eine für alle Berliner Kinder offene bilinguale Schulbildung ab der ersten Klasse bis zum Abitur an. Sie kombiniert den Spracherwerb durch das Konzept der dualen Immersion mit dem Ziel als interkulturelle Begegnungsschule zu fungieren. Hier wird an 17 Grundschulen und 13 weiterführenden Schulen in insgesamt neun Sprachkombinationen unterrichtet. Das Konzept der Staatlichen Europaschulen bietet Anknüpfungspunkte für vergleichbare Angebote in Nordrhein-Westfalen.
Weiterführende Schulen
• Es ist dringend geboten, dass in den Sekundarstufen der HSU als ordentliches Unterrichtsfach weitergeführt wird. Je nach Zusammensetzung der Schülerschaft und des Lehrerkollegiums werden Sprachen wie Italienisch, Polnisch, Russisch und Türkisch als 2. Fremdsprache angeboten. Diese Sprachen müssen dann auch als Abiturfach angeboten werden.
Die Landespolitik als Motor
Der Landesintegrationsrat steht mit seinen Forderungen zur Stärkung der Herkunftssprachen im Bildungssystem nicht alleine da. Zahlreiche Wissenschaftler/innen forschen seit Jahren zu diesem Thema und unterstützen mit ihren Ergebnissen die Positionen des Landesintegrationsrates. Auch die Landespolitik und viele Städte und Gemeinden haben die Chancen, die uns unsere Einwanderungsgesellschaft bietet, erkannt und punktuell Angebote geschaffen.
Beispielsweise führte der Landesintegrationsrat in Kooperation mit der Landesregierung von April 2016 bis Juni 2017 die ‚Initiative Lebendige Mehrsprachigkeit‘ durch, deren zentrales Anliegen war, Mehrsprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund in sechs Modellregionen (Bonn, Dortmund, Gelsenkirchen, Krefeld, Kreis Paderborn, Kreis Warendorf) besonders zu fördern. Der Landesintegrationsrat schlägt vor, an die begonnene Arbeit anzuknüpfen und die Initiative weiterzuführen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, die Entwicklung und Implementierung von durchgehenden Sprachlernkonzepten zunächst in Ballungsgebieten zu vollziehen. Eine Konzentration auf Städte mit hohem Migrantenanteil kann ein erster Schritt sein. Für diese Phase sind nur wenige Vorbereitungen notwendig. Mehrsprachige Erzieherinnen und Erzieher beispielsweise sind in ausreichender Zahl vorhanden.
Mittel- und langfristiges Ziel muss jedoch sein, mehrsprachiges Lernen flächendeckend einzuführen, also strukturell im Elementarbereich, Schul- wie auch im Hochschulwesen zu verankern und mit dem Regelunterricht zu koordinieren. Die Voraussetzungen für eine systematische Implementierung mehrsprachiger Konzepte sind dabei in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu anderen Bundesländern sehr gut. So stellt die Gesetzes- und Erlasslage eine eindeutige bildungspolitische Fahrtrichtung unseres Bundeslandes dar (siehe Anlage). Auch die amtierende Landesregierung kündigt in ihrem Koalitionsvertrag an, die Förderung der Mehrsprachigkeit weiterzuentwickeln.
Entgegen des Eindrucks, der im Zuge der Debatte um Englischunterricht an Grundschulen entstanden ist, gibt es also viel Zuspruch für die Förderung der Mehrsprachigkeit in unserem Land. Der Landesintegrationsrat ist davon überzeugt, dass hierauf aufgebaut werden sollte und große Fortschritte auch ohne gesetzliche Initiativen erreicht werden können. Die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten müssen voll ausgeschöpft und Defizite in der Umsetzung der Vorgaben auf Landesebene beendet werden. Dazu braucht es eine gezielte regionale Förderung durch die Landespolitik und mehr Investitionen u.a. auch in die Ausbildung von Lehrer/innen und Erzieher/innen.
Abschließend bleibt festzustellen: Wenn schlechte Leistungen der Kinder mit Migrationshintergrund tatsächlich der Vergangenheit angehören sollen, müssen die Herkunftssprachen systematisch in den Unterricht einbezogen werden. Überdies können so nicht nur Deutschkenntnisse und Schulnoten verbessert werden. Die damit einhergehenden Signale der Wertschätzung fördern auch das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft insgesamt.
Anhang
Gesetze und Erlasse zur Mehrsprachigkeit in NRW
Gesetz zur frühen Bildung und Förderung von Kindern (Kinderbildungsgesetz – KiBiz)
Viertes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, SGB VIII (2014)
„§ 13c
Sprachliche Bildung
(1) Zur Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages gehört die kontinuierliche Förderung der sprachlichen Ent¬wicklung. Sprachbildung ist ein alltagsintegrierter, wesentlicher Bestandteil der frühkindlichen Bildung. Sprache ist schon in den ersten Lebensjahren das wichtigste Denk- und Verständigungswerkzeug. Die Mehrsprachigkeit von Kin¬dern ist anzuerkennen und zu fördern. Sie kann auch durch die Förderung in bilingualen Kindertageseinrichtungen oder bilingualer Kinderta¬gespflege unterstützt werden.
(2) Die sprachliche Entwicklung ist im Rahmen dieses kontinuierlichen Prozesses regelmäßig und beginnend mit der Beobachtung nach § 13b Absatz 1 Satz 4 unter Verwendung geeigneter Verfahren zu beobachten und zu dokumentie¬ren. Die Sprachentwicklung soll im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten auch in anderen Muttersprachen beobachtet und gefördert werden.
(3) Die pädagogische Konzeption nach § 13a muss Ausführungen zur alltagsintegrierten kontinuierlichen Begleitung und Förderung der sprachlichen Bildung der Kinder und zur gezielten individuellen Sprachförderung enthalten.
(4) Für jedes Kind, das eine besondere Unterstützung in der deutschen Sprache benötigt, ist eine gezielte Sprachförderung nach dem individuellen Bedarf zu gewährleisten.
NRW-Schulgesetz von 2012
§ 2 „Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule“, Absatz 10:
„Die Schule fördert die In¬tegration von Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, durch Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache. Dabei achtet und fördert sie die ethnische, kulturelle und sprachliche Identität (Muttersprache) dieser Schülerinnen und Schüler.“
Herkunftssprachlicher Unterricht
Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 28.06.2016
3 Herkunftssprachlicher Unterricht in der Sekundarstufe I
3.1 Wenn die sächlichen, curricularen und personellen Voraussetzungen gegeben sind, kann an Schulen der Sekundarstufe I nach Maßgabe des §5 Absatz 1 APO-S I die Herkunftssprache anstelle einer zweiten oder dritten Fremd¬sprache angeboten werden. Ein solches Angebot kann eingerichtet werden, wenn ausreichend große Lerngruppen zustande kommen. Die Schule informiert die Eltern der Schülerinnen und Schüler hierüber beim Übergang in die Sekundarstufe I.
Sylvia Löhrmann, ehemalige Ministerin für Schule und Weiterbildung in NRW
aus: Amtsblatt MSW, Dezember 2012
„Die guten Ergebnisse von Projekten wie ‚Koala‘ (‚Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunterricht‘) machen Mut und zeigen, dass sich die sprachlichen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen in der Familiensprache und in Deutsch gleichermaßen verbessern lassen, wenn die unterschiedlichen Sprachen systematisch miteinander verknüpft werden.
Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule
(Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 in der Fassung vom 05.12.2013)
Aus der Vorbemerkung
„Die Schulen sind gefordert, pädagogische Handlungskonzepte für den Umgang mit Vielfalt zu entwickeln und umzusetzen. Das gemeinsame Lernen in allen Fächern ist eine zentrale Voraussetzung für interkulturelle Lernprozesse. Diese können insbesondere durch die Beschäftigung mit Sprache und Mehrsprachigkeit im Fremd- oder Herkunftssprachenunterricht und internationale Schulpartnerschaften unterstützt werden.
Nationaler Integrationsplan 2007
„Neben dem Erwerb der deutschen Sprache anerkennt die Kultusministerkonferenz die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für alle Kinder und Jugendlichen. Dies schließt die Herkunfts- oder Familiensprachen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein. Es sind geeignete Maßnahmen zu identifizieren, die das Prinzip der Mehrsprachigkeit im Schulalltag angemessen verankern. Die Länder werden nach Abschluss der laufenden Evaluierung des Modellprogramms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig)“ prüfen, inwieweit erfolgreiche Handlungsansätze und Instrumente in das Regelsystem überführt werden können. Die Kultusministerkonferenz verpflichtet sich, auf der Grundlage der nationalen Bildungsberichterstattung in einen kontinuierlichen Meinungsaus¬tausch zur Förderung der Mehrsprachigkeit einzutreten.“ (S. 66)