Workshop für Integrationsräte: „Mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus umgehen“
22. Juni 2021„Wir haben nur eine einzige Welt, die alle Menschen miteinander teilen!“
22. Juli 2021Stellungnahme des Landesintegrationsrates NRW zu den Landesmaßnahmen aus dem Sondervermögen „Corona-Rettungsschirm“, Vorlage 17/5358, sowie dem Maßnahmenvorschlag der Fraktion der SPD 21.07.2021
Der Landesintegrationsrat NRW bedankt sich für die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den Landesmaßnahmen aus dem Sondervermögen „Corona-Rettungsschirm“, Vorlage 17/5358, sowie dem Maßnahmenvorschlag der Landtagsfraktion der SPD. Er begrüßt den Einbezug der Interessen der Einwohner/innen NRWs mit internationaler Familiengeschichte in die Beratung zu den Maßnahmen aus dem genannten Sondervermögen. Insbesondere begrüßt er die proaktive Herangehensweise, finanzielle wie gesellschaftliche Schäden auf Landes-ebene anzugehen, um die wirtschaftliche Stabilität Nordrhein-Westfalens zu gewährleisten. Vor allem aber befürwortet er das Bestreben, sozialen und gesellschaftlichen Spaltungen etwas entgegenzusetzen.
Um näher auf die Maßnahmenvorschläge sowie den Fragenkatalog eingehen zu können, muss zunächst ein Überblick über die unterschiedlichen Lebenslagen der heterogenen Bevöl-kerung mit internationaler Familiengeschichte gegeben sowie ihrer Betroffenheit von der Pandemie und ihren Folgeerscheinungen dargestellt werden: Menschen mit familiärer Mig-rationsbiografie sind in allen sozialen Schichten der Einwohnerschaft NRWs vertreten. Laut der Migrantenmilieu-Studie des Bundesverbandes Wohnen und Stadtentwicklung (vhw) von 2018 ist ihre Milieuzugehörigkeit mit der der autochthonen Mehrheitsbevölkerung nahezu deckungsgleich. Dies deutet darauf hin, dass die Betroffenheit der Bevölkerung mit interna-tionalem Background von der COVID-19-Pandemie sich nicht sonderlich von der der ange-stammten Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Jedoch gehören einige, die zu diesem Per-sonenkreis zählen, zu besonders benachteiligten Gruppen, z.B. Senior/innen mit internationa-ler Geschichte, Geflüchtete und Arbeitsmigrant/innen, die als Erntehelfer/innen, in der Fleischverarbeitung oder der häuslichen Pflege beschäftigt sind. Diese sind zudem von Sprachbarrieren und erschwerten Zugängen zur Gesundheitsversorgung betroffen. Men-schen mit Fluchterfahrung und ausländische Arbeitskräfte leiden darüber hinaus unter äu-ßerst prekären Wohn- und ggfs. Arbeitsbedingungen. Sie können sich selbst auf der Arbeit oder „Zuhause“ kaum vor einer Infektion schützen. Ihre Lebenssituation wurde anhand von massenhaften Ausbrüchen des Virus in Sammelunterkünften für Geflüchtete wie auch für Arbeiter/innen offenbar.
Zudem haben sich, wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berichtete, bereits beste-hende Formen von Diskriminierung aufgrund der „ethnischen Herkunft“ in den Zeiten der Pandemie noch verschärft. Dies betraf zu Beginn der Pandemie vor allem Menschen, die als fernostasiatisch gelesen wurden. Im Verlauf des weiteren Pandemiegeschehens rückten vermehrt auch andere Herkunftsgruppen in den Fokus und wurden in der Öffentlichkeit pau-schal als rücksichtslose Triebfeder der Infektion oder unwissende Impfverweigerer darge-stellt. Von der ansteigenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind nahezu alle Menschen mit internationaler Familiengeschichte betroffen. Diejenigen, die sozioökono-misch benachteiligt sind, werden zusätzlich aufgrund ihres sozialen Status diskriminiert.
Um die Betroffenheit durch das Corona-Virus zu beleuchten, ist auch die Ausbreitung der Krankheit in dieser Gruppe von Bedeutung. Zur Häufigkeit der Erkrankung an COVID-19 in dieser Bevölkerungsgruppe existieren allerdings keine Daten, da der Faktor „Migrationshin-tergrund“ in Deutschland nicht in medizinischen Akten erfasst wird. Studien aus Frankreich und Großbritannien – postkolonialen Staaten mit einer hohen Population von People of Co-lour – legen allerdings nahe, dass Minderheiten in besonderem Maße von einer COVID-19-Infektion und hier von einer immens starken Symptomatik bedroht sind.
Die Einwohner/innen mit internationaler Familiengeschichte sind zudem besonders bei der Bekämpfung des Virus bzw. der Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens gefordert. So ar-beiten überdurchschnittlich viele als Ärzt/innen, Pfleger/innen und Hauswirtschaftskräfte im Bereich der Gesundheitsversorgung, Kranken- und Altenpflege. Viele sind im Einzelhandel, in der Logistik, im Transportwesen oder als Reinigungskräfte beschäftigt und halten so „den Laden am Laufen“. Sie können sich nicht ins Homeoffice zurückziehen und so vor Ansteckung schützen. Aus diesen Gründen sind sie erhöhten Risiken ausgesetzt, am Coronavirus zu er-kranken und häufiger von einem schweren Verlauf betroffen zu sein. Zudem spielt auch die Wohnsituation eine große Rolle bei der Übertragung von COVID-19.
Viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte leben (historisch bedingt) in Vier-teln, die dicht besiedelt sind und zugleich eine schlechte Infrastruktur aufweisen. Es handelt sich häufig um Quartiere, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind: Vielfach wohnen die Menschen hier auf engem Raum zusammen. Zu den Einwohner/innen gehören oftmals Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen stecken oder in Arbeitslosigkeit le-ben. Zum Risikofaktor beengter Wohnverhältnisse kommt hier hinzu, dass sie sich im Beruf nicht gut vor Ansteckung schützen bzw. ihrem Arbeitgeber gegenüber Schutz vor der Infekti-on einfordern können. Zudem haben überproportional viele Arbeitnehmer/innen mit inter-nationaler Familiengeschichte ihren Job in der Corona-Krise verloren, beispielsweise in der Gastronomie. Hiervon sind insbesondere Geflüchtete betroffen. Vielen von ihnen wurden in der Krise ihr Beschäftigungsverhältnis gekündigt. Insgesamt sind große Teile der Bevölke-rung mit Migrationsgeschichte von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen. Vor allem klei-ne und mittelständische Unternehmen sind im Zuge des Lockdowns zerstört worden. In die-sen waren häufig Arbeitnehmer/innen mit internationaler Geschichte angestellt, weshalb hier von einer erhöhten Arbeitslosenquote ausgegangen werden kann.
Laut einer Studie des Mediendienstes Integration begünstigen die oben angeführten Fakto-ren nicht nur eine Verschärfung der sozio-ökonomischen Benachteiligung und das Risiko, sich mit COVID-19 anzustecken. Zusätzlich resultiert aus ihnen eine schlechte physische und psy-chische Konstitution, die zur Entwicklung bestimmter Vorerkrankungen wie Adipositas, Dia-betes, Herzerkrankungen, aber auch Depressionen führen kann. Hierdurch potenziert sich das Risiko einer schweren Corona-Infektion mit lebensbedrohlichen Symptomen um ein Viel-faches.
Auch in Punkto Bildungsgerechtigkeit hat die Corona-Krise wie ein Motor auf die bestehen-den Disparitäten gewirkt. Schon seit Langem moniert der Landesintegrationsrat NRW, mit Verweis auf die PISA-Studien der vergangenen Jahrzehnte, auf Ungerechtigkeiten in der Bil-dungslandschaft. Hier liegt ein Hauptproblem in der Verkennung der mitgebrachten kulturel-len, sozialen und sprachlichen Ressourcen von Kindern und Jugendlichen sowie ihrer Fähig-keit, die unterschiedlichen Lebens- und Sprachwelten kohärent miteinander in Einklang zu bringen. Dadurch erfolgt eine Missachtung der Persönlichkeitselemente von Kindern und Jugendlichen, die in ihrer familiären Herkunftskultur wurzeln. Diese Herabwürdigung ver-letzt die Kinder und Jugendlichen in ihrer gesamten Identität. Hinzu kommen weniger subtile Formen von Rassismus und Diskriminierung im Schulalltag. Der Landesintegrationsrat NRW empfiehlt hier die Anwendung migrationspädagogischer Methoden sowie die Förderung der spezifischen Potenziale wie beispielsweise der natürlichen Zweisprachigkeit.
Hinsichtlich der Bildungsgerechtigkeit müssen auch hier die Unterschiede und Gemeinsam-keiten innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit internationaler Familienge-schichte identifiziert werden. Für diejenigen, die sich in prekären Lebenslagen befinden, muss sich die Wohn- und Lebenssituation verbessern, will man eine gerechte Bildungsteilha-be initiieren. Dies betrifft sowohl sozial benachteiligte ‚Alteingesessene‘ als auch Neueinge-wanderte und solche mit Fluchterfahrung. Geflüchtete und neueingewanderte Kinder und Jugendliche hatten durch die Schul- und Kitaschließungen darüber hinaus den Nachteil, dass Sprachbarrieren nicht abgebaut werden konnten. Diese stellen zusätzliche Hürden im Bil-dungssystem dar.
Auch muss ein gleichberechtigter Zugang zu digitalen Formen der Beschulung gewährleistet werden. In Punkto Digitalisierung und der Beschaffung von Endgeräten sind zwar positive Entwicklungen zu verzeichnen, jedoch sollte dies durch die Schulen und die Jugendhilfe im Blick behalten und gegebenenfalls nachgebessert werden. Auch die medialen Kompetenzen von Lehrkräften, Sozialpädagog/innen wie Schülerschaft sollten gefördert und erweitert werden; ungeachtet des Plans, nach den Sommerferien am Präsenzunterricht festzuhalten. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft existieren zudem große Unterschiede hinsichtlich der digitalen Kompetenzen der Schüler/innen, je nach sozialer Lage und Migrationshinter-grund. Im heutigen Informationszeitalter sollte auch der Umgang mit digitalen Medien an Schulen vermittelt werden. Außerdem ist unklar, wie lange uns das Virus in seinen mutierten Varianten noch begleiten wird. Der Landesintegrationsrat NRW erachtet es für richtig und sinnvoll, dass die Landesregierung die Schulen und Kitas offenhalten möchte. Dabei sollte nach praktikablen, langfristigen Lösungen gesucht werden, wie der Schutz der Schüler/innen wie auch des Schulpersonals gewährleistet werden kann, beispielsweise durch Überprüfung der Wirksamkeit mobiler Lüftungsanlagen oder Verkleinerung der Schulklassen.
Wie oben ausgeführt existiert eine dringende Notwendigkeit, sozioökonomischen Benachtei-ligungen, die durch die Corona-Krise verstärkt wurden, entgegenzusteuern. Dies betrifft ins-besondere die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Vergütung von Menschen, die im Gesundheitssystem und anderen systemrelevanten Berufen tätig sind. Außerdem gilt es, die Wohn- und Lebenssituation von sozial benachteiligten Menschen – gleich welcher Her-kunft – zu verbessern. Die Politik muss dringend für die Schaffung bezahlbaren Wohnraumes Sorge tragen. Dies betrifft Geflüchtete und Arbeitsmigrant/innen in besonderer Weise, ihnen muss dezentraler und menschenwürdiger Wohnraum zur Verfügung gestellt werden. Der Überausbeutung von Erntehelfer/innen, Arbeiter/innen in der Fleischverarbeitung und in der Pflege muss dringend ein Riegel vorgeschoben werden. Grundsätzlich gilt es, prekäre Ar-beits- und Lebensbedingungen langfristig und effektiv für alle zu beseitigen.
Die Bildungsteilhabe aller Kinder und Jugendlichen muss gesichert und Disparitäten ausge-glichen werden. Von den psychischen Folgen der Isolation durch Schul- und Kitaschließungen sind fast alle Kinder und Jugendlichen betroffen. Hier muss in sozialpädagogische und psy-chologische Unterstützungsangebote investiert werden, die unkompliziert zugänglich sind. Die Schaffung von weiteren Stellen der Jugendhilfe an Schulen aber auch im Quartier ist dringend notwendig. Eine weitere Verschlimmerung der psychosozialen Situation von Kin-dern und Jugendlichen muss unter allen Umständen verhindert werden. Der Landesintegra-tionsrat NRW befürwortet daher den Maßnahmenvorschlag der SPD-Landtagsfraktion, An-gebote der Jugendhilfe an Schulen auszubauen sowie einen echten Sozialindex zu etablieren, ganz besonders. Auch die außerschulische Jugendhilfe muss gefördert werden.
Ebenso ist eine Offensive im Bereich der Pflege- und Gesundheitsversorgung dringend nötig. Die Zugänge zur Gesundheitsversorgung müssen für besonders vulnerable Gruppen wie Se-nior/innen, Geflüchtete und Arbeitsmigranten gesichert und Barrieren – sprachlicher, kultu-reller oder finanzieller Art – beseitigt werden. Angesichts der größer werdenden Diversität unserer Gesellschaft, lohnt es sich, zielgerichtet die unterschiedlichen Bedürfnisse verschie-dener gesellschaftlicher Gruppen zu berücksichtigen; z.B. durch kulturgerechte Pflege. Dis-kriminierende Strukturen im Gesundheitssystem müssen abgebaut werden.
Ganz allgemein befürwortet der Landesintegrationsrat NRW die Maßnahmenvorschläge der SPD-Landtagsfraktion. Vor allem hält er die Unterstützungsmaßnahmen für die Kommunen, das Ehrenamt, bestimmte Branchen sowie Kultur und Sport für äußerst sinnvoll. Insbesonde-re gilt es, das Gesundheitssystem für alle Beteiligten gerecht und in seiner Wirksamkeit ef-fektiv zu gestalten. Hier darf auch in Zukunft nicht mehr gespart werden, insbesondere nicht am Personal! Ebenso ist die Schaffung von Strukturen, um künftigen pandemischen Lagen zu begegnen, von Bedeutung. Trotz der Hoffnung, das Corona-Virus in den Griff zu bekommen, haben die vergangenen eineinhalb Jahre gezeigt, wie wichtig es ist, sich auf Unvorhergese-henes vorzubereiten. Dies ist nicht allein durch die Investition in Wissenschaft und Forschung sowie die Installation von Lüftungsanlagen und die Bevorratung von Schutzmaterial getan. Als entscheidender Pandemietreiber hat sich die negative Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erwiesen wie die erwähnte Expertise des Mediendienstes Integration und die hohen Inzidenzzahlen in sozioökonomischen Brennpunkten nahelegen.
Der Landesintegrationsrat NRW begrüßt grundsätzlich, dass die Landesregierung Mittel nicht nur für die Bekämpfung des Corona-Virus, sondern auch zum Schutz von Frauen und Kindern, zur Entlastung von Familien und Unterstützung von Kleinunternehmern und Soloselbstständi-gen bereithält und auch die Kommunen finanziell unterstützt. Als Interessensvertretung der Einwohner/innen NRWs mit internationaler Familiengeschichte plädiert er dafür, dringend Rassismus und Diskriminierung auf allen Ebenen zu bekämpfen! Denn wie oben angeführt, sind diese Formen der Ausgrenzung, Abwertung und Menschenfeindlichkeit durch die Pan-demie massiv verstärkt worden. Die Landesregierung muss in diesen Zeiten in den Schutz der Bevölkerung vor diesen Phänomenen investieren. Zugleich bestehen in allen gesellschaftlichen Bereichen Strukturen, die Rassismus und Diskriminierung befördern. Dies ist nicht nur ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, sondern auch eine Vergeudung der Potenziale und Ressourcen, die die Bevölkerung mit internationalem Background für unsere Gesellschaft bereithält. Integrationspolitisch ist NRW zwar Vorreiter und um Innovationen bemüht, jedoch ist der Faktor Rassismus und Diskriminierung im Kontext von COVID-19 kaum beachtet worden. Hier müssen dringend Gelder investiert und die gesetzlichen Rahmenbedingungen, z.B. durch Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes auf Landesebene, verbessert werden.
Welches finanzielle Volumen die langfristig sinnvollen Investitionen in den Bereichen Bil-dungsgerechtigkeit, Erhöhung der Arbeits- und Wohnqualität, im Gesundheitssystem und der Bekämpfung von Rassismus erfordert, muss im Detail kalkuliert werden. Dass von den 25 Milliarden Euro des Rettungsschirms lediglich 6,3 Milliarden abgeflossen sind, ist womöglich durch kommunikative und bürokratische Hürden bedingt. Häufig besitzen sowohl Institutio-nen wie auch Bürger/innen und Einwohner/innen keine Kenntnis von den Unterstützungs-möglichkeiten durch das Land. Der Erfahrung des Landesintegrationsrates NRW nach ist die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch oftmals wirksamer als die alleinige Nutzung medialer Kommunikationsmittel. Es gilt also die richtigen Ansprechpartner/innen als Multi-plikator/innen zu gewinnen. Darüber hinaus ist die Barrierefreiheit der Angebote zu über-prüfen, um sicherzustellen, dass diese auch in Anspruch genommen werden. In jedem Fall müssen die Gründe für die geringe Nutzung des Rettungsschirms in Erfahrung gebracht wer-den und identifizierte Hürden beseitigt werden. Denn der Bedarf an Geldern aus dem Ret-tungsschirm ist zweifelsohne hoch.