Vielfalt & ihre Potenziale sichtbar machen
26. Oktober 2023Rede des Vorsitzenden Tayfun Keltek am 21.11.2023
23. November 2023Positionspapier des Landesintegrationsrates NRW
Die Ausländerbehörden befinden sich im fortwährenden Krisenmodus. Bei uns in NRW, aber auch im ganzen Bundesgebiet arbeiten die Behörden dauerhaft an ihrer Belastungsgrenze. Die Leidtragenden sind die Menschen, die auf ihre Dienste angewiesen sind, aber auch die Mitarbeiter/innen in den Ausländerbehörden selbst. Der Landesintegrationsrat NRW fordert die Kommunen auf, die Situation kurzfristig zu entschärfen. Auch an den Bund und das Land wird appelliert, gesetzgeberische und organisatorische Maßnahmen zu treffen, um die Ausländerbehörden mittel- und langfristig personell besser aufzustellen und serviceorientierter auszurichten.
Ausländerbehörden nehmen ein vielfältiges Aufgabenspektrum wahr. Dieses reicht von der Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln und Duldungen, über die Vollziehung von Abschiebungen bis zu der Ausstellung von Reisepapieren, der Durchführung von Einbürgerungen und Namensänderungen sowie der Entgegennahme von Verpflichtungserklärungen zur Visaerteilung. Menschen mit ausländischem Pass kommen – zum Teil abhängig von ihrem Aufenthaltsstatus – häufig mit den Ausländerbehörden in Kontakt und sind von den Entscheidungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besonderer Weise abhängig, da sie die Existenzgrundlagen für das Leben in Deutschland berühren. Betroffen sind keineswegs nur Geflüchtete, sondern auch Fachkräfte, Studierende und EU-Bürger/-innen. Auch Deutsche mit internationaler Familiengeschichte müssen sich an die Behörden wenden, wenn beispielsweise bei einem Verwandtenbesuch aus dem Ausland eine Verpflichtungserklärung für die Übernahme der Kosten gefordert wird.
Die prekäre Situation der Ausländerbehörden ist für die Menschen mit internationaler Familiengeschichte fatal: Dem Einzelnen droht im schlimmsten Fall der Verlust des Arbeitsplatzes oder Familienangehörige können nicht nachkommen. Über lange Zeiträume können Jobs nicht angetreten werden, weil Beschäftigungserlaubnisse nicht ausgestellt werden, Verwandte im Ausland nicht besucht oder Aufenthaltstitel nicht ausgestellt werden. Die betroffenen Personen befinden sich bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit der Ausländerbehörden schnell in sehr belastenden Situationen, die starke Unsicherheiten zur Folge haben und das ganze Leben zum Stillstand bringen können. Überlange Bearbeitungszeiten, Nichterreichbarkeit der Ausländerbehörden, extrem lange Wartezeiten für Termine, herabwürdigende Sicherheitskontrollen, unfreundliche Mitarbeiter/innen und zuweilen sogar diskriminierende und rassistische Vorfälle kennzeichnen den Status quo.
Für Viele bedeutet dieser Zustand Verzweiflung, Unsicherheit, zerstörte Zukunftsperspektiven und das überwältigende Gefühl, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. Weitgehend unbemerkt von den Einwohner/innen ohne internationale Familiengeschichte, die nicht auf die Dienste der Ausländerbehörden angewiesen sind, erleben Betroffene, dass die Ausländerbehörden als staatliche Einrichtungen völlig ungenügend funktionieren – und das häufig über Jahre. Zugleich befinden sich die Menschen in großer Abhängigkeit von den Behörden. Sie sind den einzelnen Sachbearbeiter/innen buchstäblich ausgeliefert und in ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, da es keine unabhängige Beschwerdestelle gibt.
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung vom 29. Oktober 2023 bestätigt die Kritik Betroffener, ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe Tätiger und der Ausländerbehörden selbst und berichtet von „gravierenden Missständen“.1 Auch wenn einige dieser Probleme schon lange bekannt seien, erreiche das Ausmaß derzeit doch eine neue Dimension.2
Die Ausländerbehörden selbst sehen sich durch die gestiegene Zahl der Asylsuchenden und Geflüchteten, insbesondere aus Syrien und der Ukraine, die Heterogenität von Zuwanderung, die Internationalisierung von Studium und Arbeit sowie regelmäßige Neuerungen in der Bundesgesetzgebung personell und technisch überfordert. Zwischen 2014 und 2020 fanden fünfunddreißig Änderungen Eingang in das Aufenthaltsgesetz und allein im Jahr 2023 traten Gesetzesänderungen im Chancenaufenthalt, der Fachkräfteeinwanderung und der Staatsangehörigkeit/Einbürgerung in Kraft. Aus der Sicht der kommunalen Verwaltungen verkompliziert und überfrachtet die Bundesgesetzgebung, die für die Bestimmungen des Ausländerrechtes verantwortlich ist, die Verfahren bei den Ausländerbehörden.3
Drei Bereiche stechen besonders hervor: Zu wenig Personal, schleppende Digitalisierung, mangelnde Abstimmung zwischen den Ämtern und zu viele Gesetzesänderungen mit oft zu vagen Durchführungsbestimmungen. Den in den letzten Jahren gestiegenen Fallzahlen steht keine gestiegene Anzahl an Stellen gegenüber. Einarbeitung und Supervision kommen zu kurz. Die Digitalisierung krankt an fehlender Infrastruktur, d.h. flächendeckend schnellem Internet und der Implementierung von online-Diensten. Bereits vorgenommene Prüfungen durch andere Ämter/Behörden werden in ausländerrechtlichen Verfahren nicht genutzt und wiederholt. Die geringe Halbwertzeit von Gesetzen und die vielen „kann“-Bestimmungen lassen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörden allein.
Eine weitere große Herausforderung stellt die Aufgabe des interkulturellen und serviceorientierten Wandlungsprozesses der Ausländerbehörden dar. Auch wenn diese sich traditionell als Ordnungsbehörde verstehen, bewegen sie sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen Ordnungsmacht und Zuwanderungsservice. Sie üben eine wichtige Rolle bei Integration und gelebter Willkommenskultur aus und müssen ihren sogenannten Kundinnen und Kunden Beratung bieten und Teilhabemöglichkeiten aufzeigen. So formulierte das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW von Januar 2022 als wichtiges Anliegen, „dass die Ausländerbehörden auch und gerade im Interesse der Ausländerinnen und Ausländer ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen. Dies gilt insbesondere im Blick darauf, aufenthaltsrechtliche Unsicherheiten bei den betroffenen Personen aber auch potentiellen Arbeitgebern zu vermeiden.“4 Bundesweit gibt es bereits seit einigen Jahren Bestrebungen, die innere Einstellung bzw. Haltung der Ausländerbehörden zu ändern und sie den Anforderungen unseres Einwanderungslandes entsprechend aufzustellen. Auch NRW hat sich von 2013 bis 2015 mit den Ausländerbehörden in Essen und Köln an einem bundesweiten Modellprojekt „Ausländerbehörden – Willkommensbehörden“ beteiligt. Hier fehlt jedoch die nachhaltige Entwicklung sowie die landesweite, flächendeckende Übertragung. Notwendig sind ein umfassender interkultureller und serviceorientierter Öffnungsprozess der Behörden und die Abkehr von der rein ordnungspolitischen Ausrichtung. Ausländerbehörden haben den Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft gewachsen zu sein und einen wertschätzenden Umgang mit Menschen mit internationaler Familiengeschichte zu pflegen. Erforderlich ist u.a., dass Führungskräfte entsprechend geschult sind und regelmäßige interkulturelle Fortbildungen und Antirassismustrainings für die Behördenmitarbeiter/innen verpflichtend durchgeführt werden.
Das Landesprogramm Kommunales Integrationsmanagement (KIM), das seit 2020 von den Kommunen umgesetzt wird, bietet gute Chancen, um Willkommensstrukturen aufzubauen. Das Programm hat zum Ziel, Verwaltungsstrukturen zu optimieren sowie die Zusammenarbeit rechtkreisübergreifend und mit verwaltungsexternen Akteur/innen in der Integrationsarbeit zu gewährleisten. Die Integration von Menschen, die Entfaltung ihrer Potenziale, nicht Hindernisse und Barrieren, stehen dabei im Mittelpunkt. Zudem werden vom Land Mittel für Personalstellen in den Ausländer- und Einbürgerungsbehörden zur sogenannten rechtlichen Verstetigung der Integration ausländischer Menschen mit besonderen Integrationsleistungen zur Verfügung gestellt. Das zusätzliche Personal soll zur Umsetzung von Bleiberechten bei gut integrierten Ausländer/innen nach § 25a und § 25b AufenthG eingesetzt werden.5
Vor diesem Hintergrund sind jegliche Ansätze zur Verbesserung der Strukturen der Ausländerbehörden in einen umfassenden inneren Transformationsprozess einzubetten, der die gesellschaftliche Rolle der Behörde in den Blick nimmt.
Forderungen
Die Menschen mit internationaler Familiengeschichte erwarten die Ergreifung sofortiger Maßnahmen, um den Notstand der Ausländerbehörden zu beheben und die Weiterentwicklung als Willkommensbehörden zu garantieren. Als Landesverband der kommunalen Integrationsräte mahnt der Landesintegrationsrat NRW die Diskussion bzw. Umsetzung folgender Vorschläge an:
Personalmanagement: Manche Kommune versucht, den Notstand in der Ausländerbehörde durch die Einrichtung von Projektstellen bzw. Zeitverträgen zu beheben, um damit einfache Aufgaben zu erledigen.6 Dieser Ansatz mag die ärgste Not lindern, greift aber zu kurz. Die aufgezeigten Mängel können lediglich durch mehr, aber auch geschulteres und besser bezahltes Personal behoben werden. Gründliche Einarbeitungen sind ebenso notwendig wie auch die Öffnung der Personalstellen für Personen mit pädagogischem oder sozialarbeiterischem Hintergrund. Insgesamt sollte auf ein breites Kompetenzspektrum beim Personal geachtet werden, insbesondere müssen Mitarbeiter/innen mit internationaler Familiengeschichte gezielt angeworben und explizit angehalten werden, ihre mehrsprachigen und interkulturellen Fähigkeiten einzusetzen.
Für die rasche Abarbeitung absolut dringlicher Anliegen sollten Notfallgruppen und Stabsstellen mit Organisationsverantwortung eingerichtet werden, die Vorsprachen ohne Termin ermöglichen. Damit extreme Bearbeitungsstaus in Zukunft vermieden werden, braucht es Notfallkonzepte, die auch vorrübergehende Unterstützung aus anderen Ämtern und ggf. Umsetzungen beinhalten.
Digitalisierung: Die flächendeckende Einführung von digitalisierten Akten und digitalisierten Angeboten, wie eine online-Terminvergabe, sollten im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit sein. Besonders bedeutsam ist die E-Akte für die Überstellung zu anderen Behörden, beispielsweise im Falle eines Umzugs. Bislang dauert die Überstellung mitunter Monate, sodass Unterlagen ihre Gültigkeit verlieren und Anträge zum Teil von neuem gestellt werden müssen.
Allerdings muss Digitalisierung planvoll und durchdacht erfolgen, um Arbeitsprozesse tatsächlich zu erleichtern. Beispielsweise können persönliche Vorsprachen, die auch der persönlichen Einschätzung von Personen und ihren Lebenslagen dienen, durch digital eingereichte Anträge nicht ersetzt werden.
Behördenorganisation: Die Doppelfunktion von Zuwanderungsservice und Ordnungsverwaltung birgt in sich Konflikte. Die Organisation von Abschiebungen ist kaum vereinbar mit der grundsätzlichen Ausrichtung als Willkommens- und Integrationsbehörde. Hier kann über eine Trennung der Aufgaben nachgedacht und Abschiebungen ggf. bei den Ordnungsämtern angesiedelt werden. Selbstverständlich muss das Personal interkulturell und antirassistisch geschult sein und Härten vermieden werden. Sofern Bundesgesetzte Spielräume zulassen, müssen diese zugunsten der abzuschiebenden Menschen genutzt werden. Hier ist auch das Land gefragt, Anwendungshinweise zu geben. Eine Vernetzung mit nichtstaatlichen Einrichtungen, wie z.B. den Migrationsberatungen, kann weiter hilfreich sein. Zu überlegen ist auch, auf der Ebene der Bezirksregierungen Kompetenzzentren für einzelne Sprachen zu bilden.
Gesetzgebung: Der Chancenaufenthalt wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Bruch zwischen Theorie und Praxis. Die Bearbeitungszeiten der Anträge übersteigen nicht selten die im Gesetz vorgesehene achtzehnmonatige Frist zur Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis. Abhilfe schafft hier eine gesetzlich verankerte Genehmigungsfiktion, d.h. soweit der Antrag nicht innerhalb einer überschaubaren Frist abgelehnt wird, gilt er als genehmigt.
November 2023
- Vgl. Thorsten Schlee, Hannes Schammann, Sybille Münch: „An den Grenzen? Ausländerbehörden zwischen Anspruch und Alltag.“ Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, Oktober 2023, S. 5.
- Vgl. Ebd.
- Vgl. Melanie Schicker, Leiterin der Ausländerbehörde Dortmund in Nordstadt-Blogger, https://www.nordstadtblogger.de/stamm-wir-alle-die-wir-gefluechtete-und-zugewanderte-begleiten-sind-frustriert/, vom 12. April 2023, abgerufen am 07.11.2023.
- Bericht des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2022, Vorlage 17/6328.
- Vgl. Handlungskonzept Kommunales Integrationsmanagement Nordrhein-Westfalen.
- Vgl. Christian Uhr, Personal- und Organisationsdezernent der Stadt Dortmund in Nordstadt-Blogger, https://www.nordstadtblogger.de/stamm-wir-alle-die-wir-gefluechtete-und-zugewanderte-begleiten-sind-frustriert/, vom 12. April 2023, abgerufen am 08.11.2023.