Der EU-Migrationspakt: Willkür statt Recht auf Asyl
2. Oktober 2020Arbeit der Integrationsräte in Nordrhein-Westfalen
22. Dezember 2020Eine Handlungsempfehlung für Akteur*innen der Kommunalpolitik
Vorwort des Vorsitzenden des Landesintegrationsrates NRW, Tayfun Keltek:
Langfristige Maßnahmen zur Bekämpfung des Rassismus und Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft
Die Bekämpfung und Zurückdrängung von Rassismus und Rechtsextremismus ist in den letzten Jahren zu einer großen Herausforderung für unsere von Einwanderung geprägte Gesellschaft geworden. Denn mit dem Erstarken rechtspopulistischer Strömungen in Deutschland erhalten menschenverachtende Ideologien und Ansichten zunehmend in der Öffentlichkeit eine Stimme. In dieser Situation stellt sich die Frage, wie der richtige Umgang mit dieser politischen Entwicklung sein muss. Diskriminierende und ausgrenzende Positionen dürfen in Deutschland nicht zur politischen Tagesordnung gehören. Soziale Probleme wie Armut oder Arbeitslosigkeit mit bestimmten Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, bedient als einfaches Erklärungsmuster, nur die Zielrichtung der Populistinnen und verschleiert die eigentlichen Ursachen.
Wenn in einer Gesellschaft das „Wir-Gefühl“ verloren geht, weichen Solidarität und der gesellschaftlichen Zusammenhalt, Misstrauen und Neid wachsen. Unter solchen Bedingungen kann Rassismus destruktive Macht gewinnen. Eine zunehmende Anfälligkeit für Rassismus und dis- kriminierende Handlungen von Teilen der Gesellschaft ist daher nicht verwunderlich. Rassismus kann nur dadurch entmachtet werden, wenn wir uns für eine solidarische Gesellschaft einsetzen. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen unabhängig von ethnischer Herkunft, Alter, Geschlecht, sozialem Status oder Religion wertgeschätzt werden. Dieser Leitgedanke sollte unser ständiger Wegweiser und Begleiter bei der Gestaltung von Gesellschaft sein. Nur so können wir Rassismus erfolgreich aus unserer Mitte verbannen. „Wenn in einer Gesellschaft das ‚Wir-Gefühl‘ verloren geht, weichen Solidarität und der gesellschaftlichen Zusammenhalt, Misstrauen und Neid wachsen. Unter solchen Bedingungen kann Rassismus destruktive Macht gewinnen.“
Doch ein Rückblick auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte weist eher darauf hin, dass wir begünstigende Umstände für die Verbreitung von Rassismus hatten. Dies wird insbesondere im Hinblick auf das Thema Migration deutlich. Gerade Ereignisse der Nachwendezeit und die politischen Diskussionen um sie hat dieser Ent- wicklung Vorschub geleistet. Zu diesen Ereignissen gehörte der Brand- anschlag auf das Wohnhaus von Familie Genç in Solingen, bei dem vor 27 Jahren fünf Menschen ums Leben kamen. Er ereignete sich am 29. Mai 1993 kurz nach der Änderung des Grundrechts auf Asyl und einer heftig geführten Debatte um Flüchtlinge und Einwanderung. Die zum Teil migrationsfeindlichen Debatten wirkten sich nicht nur auf das Leben von Flüchtlingen in Deutschland aus, sondern auf alle Menschen mit internationaler Geschichte, auch durch rassistisch motivierte Gewalterfahrungen. Zu wenige klare Signale gegen Rassismus und Rechtsextremismus waren in der Öffentlichkeit erkennbar. Dagegen beförderten einwanderungskritische politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen in den 1990er Jahren die Festigung und Radikalisierung rechtsextremer Gruppierungen, die sich immer seltener in Parteien oder Vereinen und zunehmend in informellen Strukturen organisierten.
Auch die Entstehung des Terrornetzwerkes NSU fällt in diese Zeit. Bis 2007 ermordeten die Rechtsterroristen 10 Menschen, verübten Bombenanschläge und zahreiche Raubüberfälle. Erst 2011 wurde der NSU der Öffentlichkeit durch den gewaltsamen Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bekannt. Die Ermittlungen zu den NSU-Verbrechen ließen viele Fragen über die Hintergründe offen. Insbesondere wurde die Rolle der rechtsradikalen Netzwerke und ihrer Hintermänner vernachlässigt. Im Sommer 2018 erfolgte schließlich die Urteilsverkündung im NSU-Prozess, die sowohl für die Opfer und Hinterbliebenen als auch für anderweitige demokratische Öffentlichkeit viele Fragen offen lässt. Es darf kein Schlussstrich unter das „NSU-Kapitel“ gezogen werden. Hierzu gehören die mehr als schleppende Aufklärung der NSU-Mordserie, die Vernichtung der Akten in den Verfassungsschutzbehörden und die Informationszurückhaltung der Mitarbeiterinnen des Verfassungsschutzes in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. In Hessen ist der „Abschlussbericht zur Aktenprüfung“ für 120 Jahre unter Verschluss gestellt worden. Im Abschlussbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses vom 16.07.2014 wird gar der „Verdacht gezielter Sabotage“ geäußert.
Auch heute beherrschen polemisch geführte Debatten über bestimmte Menschen mit internationaler Familiengeschichte die öffentliche Wahrnehmung über Einwanderung. Beinahe täglich erleben wir Anfeindungen und Angriffe auf Migrantinnen, (Brand-)Anschläge auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte. Laut Bundesinnenministerium wurden im Jahr 2019 insgesamt 22.342 rechtsextreme Straftaten verzeichnet. Die Gewaltbereitschaft von Menschen mit rassistischen Einstellungen und der Organisationsgrad informeller rechter Gruppen sind nach wie vor hoch. Seit Langem weisen Wissenschaftlerinnen darauf hin, dass Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Auch die institutionellen Diskriminierungen in Behörden dürfen nicht ignoriert werden.
Wie also kann rechtsextremes Gedankengut erfolgreich bekämpft werden?
Die Gesellschaft muss sich entschieden gegen antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und jegliche Art von Diskriminierungaufgrund von Herkunft, Religion, Geschlecht, Hautfarbe oder Weltanschauung stellen. Gleichzeitig darf die Normalisierung rechtspopulistischer Aussagen nicht weiter voranschreiten und verbreitet werden. Stattdessen muss klar Position bezogen werden gegen Rassismus und Rechtsextremismus und für die offene und vielfältige Einwanderungsgesellschaft. Deutschland ist spätestens seit dem ersten Anwerbeabkommen 1955 ein Einwanderungsland. Diese Tatsache wurde lange genug politisch nicht diskutiert und darf nicht immer wieder ignoriert werden. Einwanderung ist ein konstitutives Element unserer Gesellschaft. Die Entfaltung ihrer Ressourcen müssen verstärkt im gesellschaftlichen Zusammenleben wahrgenommen werden. Nur so können wir einen Perspektivwechsel in der Integrationspolitik einleiten, die von langfristigen Maßnahmen flankiert sein sollte. Anerkennung und Wertschätzung sollten für die Menschen mit internationaler Familiengeschichte im Vordergrund stehen. Die Anerkennung der Herkunftsidentität sollte selbstverständlich sein. Insgesamt müssen die Sprachen und Herkunftsländer der Menschen mit internationaler Familiengeschichte als Teil ihrer Identität anerkannt und ihr Mehrwert für die Gesamtgesellschaft ausgeschöpft werden.
Es ist die Aufgabe der Politik, die Loyalität zum Grundgesetz als verbindendes und selbstverständliches Element aller in Deutschland lebenden Menschen in den Vordergrund zu stellen und zu fördern. Die Betonung der Gemeinsamkeiten der Menschen in unserer Einwanderungsgesellschaft muss in den Mittelpunkt der Integrationspolitik gestellt werden. Denn uns verbindet vielmehr als es Rechtspopulistinnen, Rassistinnen und zum Teil ihre Vertreterinnen in den Parlamenten wahrhaben wollen. Die Kommune ist der Kristallisationspunkt des Zusammentreffens und der Interaktionen aller Einwohner. Häufig sind Entscheidungen der Kommunalpolitikerinnen für Bürger*innen unmittelbar spürbar und greifen in ihren Alltag ein. Deshalb kommt der Kommunalpolitik eine besondere Bedeutung zu, wenn es um die Auseinandersetzung mit menschenverachtenden Einstellungen geht. In den Kommunen müssen daher Politik und Gesellschaft den Kampagnen der Rechtspopulisten offensiv entgegentreten. Hierzu gehört ein deutliches Bekenntnis kommunaler Einrichtungen und politischer Entscheidungsträger zum Engagement gegen jegliche rassistische Aktivitäten vor Ort. Im Alltag muss deutlich gemacht werden, dass Gleichgültigkeit gegenüber solchen Aktivitäten das Einfallstor für kommunale Verankerung von Rechtsextremisten und -populisten ist. Daher gilt es, jeglichen rassistischen und rechtspopulistischen Agitationsversuchen eine Absage zu erteilen. Die Integrationspolitik benötigt einen Perspektivwechsel: weg von der Defizitorientierung hin zur Wertschätzung der Potenziale der Menschen mit internationaler Familiengeschichte Gleichgültigkeit ist das Einfallstor für Rechtsextremisten und -populisten.
Nimmt eine Kommune die antidiskriminierende Arbeit vor Ort ernst und versucht mit einem demokratiefördernden Projekt rechtspopulistische Aktivitäten in einem Stadtteil zurückzudrängen, beeinflusst sie das gelingende Zusammenleben der Menschen in erheblichem Maße. Die Kommunalverwaltung muss außerdem die multikulturelle Vielfalt und Diversitätder Gesellschaft abbilden, um ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Deshalb gehört die Interkulturelle Öffnung der Verwaltung zu den wichtigsten Aufgaben der Kommunen.
Die Mehrheit der Gesellschaft lehnt Rassismus ab. Für sie ist ein friedliches und weltoffenes Zusammenleben gelebter Alltag. Es darf nicht länger hingenommen werden, dass die rechte Minderheit den Ton in der öffentlichen Migrationsdebatte angibt. Stattdessen müssen die Menschen mit internationaler Familiengeschichte und die zahllosen Menschen, die sich in Initiativen und Vereinen für eine Gesellschaft ohne Rassismus einsetzen, eine starke Stimme in Politik und Öffentlichkeit bekommen. Diese Handreichung dient dazu, die wertvolle Arbeit dieser Akteurinnen und Akteure zu unterstützen.
Die Handreichung wird in ausreichender Anzahl an die Integrationsratsmitglieder (Geschäftsstellen) versendet.