Der Landesintegrationsrat NRW ist bestürzt über die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz und sieht darin eine große Gefahr für das friedliche Zusammenleben in Deutschland
7. September 2018Zukunft der Integrationsräte
1. Oktober 2018Beschluss des Hauptausschusses vom 22. September 2018
Das Thema Flüchtlinge hat in Politik und Medien nach wie vor Hochkonjunktur. Mit Sorge beobachten die Integrationsräte in Nordrhein-Westfalen jedoch, dass die noch 2015 und 2016 gepriesene Willkommenskultur zunehmend einem Klima der Abwehr weicht. Ein auf Repression und Ausgrenzung ausgerichtetes Abschiebedogma prägt die Diskurse, öffentliche Stimmungsmache gegen Migrant/innen wird zur täglichen Normalität und rechtspopulistische Positionen gewinnen immer mehr an Einfluss.
Debatten schüren Ängste
Die Anwesenheit von Flüchtlingen und Migrant/innen in Deutschland wird dramatisiert und regelmäßig in die Nähe von Kontrollverlust und Kriminalität gerückt. So werden bewusst Ängste geschürt und Vorurteile gestärkt. Die rassistischen Ausschreitungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt in diesem Spätsommer zeigen deutlich, dass diese Entwicklung eine neue Eskalationsstufe erreicht hat. Die Grenzen des Sag- und Machbaren wurden weit nach rechts verschoben.
Spürbar ist das auch für die schon lange in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten. Tagtäglich erlebter Rassismus, willkürliche Anfeindungen und Diskriminierung stehen vermehrt auf der Tagesordnung der Integrationsräte. Für sie als Fachgremien in den nordrhein-westfälischen Kommunen für das Thema Integration sind die Auswirkungen des Rechtsrucks Teil ihrer politischen Arbeit.
Dabei sind die Debatten, die sich an den einwandernden Menschen entzünden, auch angesichts der massiv gesunkenen Asylbewerberzahlen in Deutschland völlig unverhältnismäßig. Allerdings liegen die Gründe dafür u.a. in der radikalen Abwehr von Flüchtlingen an Europas Grenzen, nicht am Rückgang kriegerischer Auseinandersetzungen oder politischer Verfolgung. Tatsächlich aber sind noch nie so viele Menschen wie derzeit weltweit auf der Flucht. Über 68 Millionen Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, zählte der UNHCR für das Jahr 2017.
Unterbringung in Massenlagern
Auch die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aufgeführten sogenannten AnkER-Zentren schlagen in dieselbe Kerbe. In diesen Zentren sollen alle ankommenden Flüchtlinge untergebracht werden, bis sie das Asylverfahren durchlaufen haben. In Bayern sind die ersten Zentren dieser Art im August in Betrieb genommen worden. Es ist zu befürchten, dass die Menschen in derartigen Massenlagern, ohne Zugang zum gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Leben, über lange Zeiträume in Ausgrenzung und Angst vor Abschiebung leben. Integration wird so bewusst verhindert.
Die Landesregierung NRW hat bereits deutlich gemacht, dass AnkER-Zentren in Nordrhein-Westfalen derzeit nicht geplant sind. Allerdings sieht der „Asylstufenplan“ der Landesregierung ohnehin die Einrichtung vergleichbarer Unterkünfte gemäß des § 47 Abs. 1b Asylgesetz vor: Flüchtlinge, deren Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ oder „unzulässig“ abgelehnt wurde, sollen zwangsweise bis zu 24 Monate in Landeseinrichtungen untergebracht werden. Bis zu ihrer Abschiebung müssen die oftmals traumatisierten Flüchtlinge dann in dauerhafter Isolation leben. Der Gesetzgeber schafft so ein Lebensumfeld, das unabhängig von Herkunft oder Migrationshintergrund die Entwicklung von Kriminalität und Gewalt begünstigt.
Übernahme rechtspopulistischer Forderungen
Es ist erschreckend zu beobachten, wie über Parteigrenzen hinweg rechtspopulistische Forderungen von Einzelnen immer weniger infrage gestellt und gezielt für die eigene Profilierung genutzt werden.
Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien, die in den Bundestag sowie zahlreiche Land- und Stadtparlamente eingezogen sind, zeigt sich gerade in der Aneignung ihrer Positionen durch andere Parteien. Die Normalisierung rassistischer Äußerungen und rechter Gewalt schreitet unaufhaltsam voran.
Die Bemühungen derjenigen, die eine humane und am Einzelschicksal orientierte Flüchtlingspolitik verfolgen, werden so konterkariert. Konstruktive Vorschläge zur Gestaltung der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen bleiben ungehört oder werden als naiv oder unrealistisch zurückgewiesen. Auch in vielen NRW-Kommunen wird haupt- und ehrenamtliches Engagement für eine gesellschaftliche Einbindung der geflüchteten Menschen durch die flüchtlingsfeindliche Grundstimmung erschwert.
Rückkehr zur Willkommenskultur
Die Integrationsräte fordern daher eine Abkehr von einer auf Abwehr und Abschiebung fokussierten Flüchtlingspolitik, um weiteren gesellschaftlichen Schaden abzuwenden. Wir appellieren an die Landesregierung, eine dringend erforderliche Willkommens- und eine neue Integrationsoffensive einzuleiten. Im Mittelpunkt sollten zukünftig die Achtung des Individualrechts auf Asyl, eine humane Behandlung der Menschen unabhängig von ihrem Herkunftsland und eine rasche gesellschaftliche Eingliederung der Geflüchteten zum Wohle aller stehen.
Die Integrationsräte fordern:
– Eine klare Absage an Rassisten und ein positiver Umgang mit unserer vielfältigen Gesellschaft
– Keine isolierte Massenunterbringung, insbesondere von jungen Männern mit sog. schlechter Bleibeperspektive
– Keine Schaffung eines Landesgesetzes gemäß § 47 Abs. 1b AsylG zur Einrichtung von Unterkünften, in denen abgelehnte Asylbewerber/innen bis zu zwei Jahren verharren müssen
– Beschränkung der maximalen Aufenthaltszeit in Landeseinrichtungen auf drei Monate
– Dezentrale Unterbringung, nach Möglichkeit in Privatwohnungen
– Abschaffung der Wohnsitzauflage
– Freier Zugang zu Rechtsberatung
– Ausreichende Versorgung mit Sozialarbeiter/innen und Psychotherapeut/innen
– Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen auch für kommunale Unterkünfte
– Integrations- und Sprachangebote für Asylbewerber/innen vom ersten Tag an, unabhängig vom Herkunftsland
– Freizeitangebote und Angebote zur sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe
– Sicherstellung der Kinderbetreuung
– Zugang zu den Regelschulen nach spätestens drei Monaten
– Unterstützung und Koordination des Ehrenamts und ungehinderter Zugang von Helfer/innen zu den Geflüchteten
– Die Landesregierung auf, sich gegen Flüchtlingsabkommen mit nordafrikanischen Staaten zu stellen und die Zustimmung zu verweigern
– Aufklärung über politische Vertretungsgremien. Die Integrationsräte repräsentieren die Interessen aller Migrantinnen und Migranten in den NRW-Kommunen. Es muss sichergestellt werden, dass jeder Flüchtling im Laufe des Asylverfahrens über die Arbeit der Integrationsräte und die Möglichkeiten zur politischen Teilhabe in NRW informiert wird.