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Stellungnahme des Landesintegrationsrates NRW zu den Gesetzentwürfen der Landesregierung
5. Oktober 2018
Alle Jahre wieder! Wann machen uns die PISA-Studien endlich wach?
8. November 2018Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 17/2993
24.10.2018
Mit dem Gesetzentwurf zum Ausführungsgesetz zu § 47 1b Asylgesetz beabsichtigt die Landesregierung, die bundesgesetzlich eingeräumte Möglichkeit, Flüchtlinge zum Aufenthalt von bis 24 Monaten in Landesaufnahmeeinrichtungen zu verpflichten, auszuschöpfen. Die Regelung betrifft alle Asylbewerberinnen und Asylbewerber, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, sowie Flüchtlinge, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet oder unzulässig abgelehnt wurde. Ziel des Gesetzentwurfes ist, nur noch anerkannte Flüchtlinge in die Kommunen zu überweisen. Personen, die als nicht schutzberechtigt beurteilt werden, sollen direkt aus den Landeseinrichtungen abgeschoben werden. Dies wird wie folgt begründet:
„Damit es den Kommunen ermöglicht wird, sich grundsätzlich auf die Integration der Personen, die ein Bleiberecht haben, zu konzentrieren, soll im Rahmen des Landesaufnahmesystems dafür Sorge getragen werden, dass jene Personen, die nach Prüfung in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht schutzberechtigt sind, möglichst konsequent und schnell bereits aus den Landeseinrichtungen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.“
Die Absicht, die Kommunen zu entlasten, die im Zuge der vermehrten Flüchtlingseinwanderung in den vergangenen Jahren Beachtliches geleistet haben, ist nachvollziehbar. Als Interessensvertretung der Migrantinnen und Migranten in NRW lehnt der Landesintegrationsrat NRW jedoch ein Ausführungsgesetz zu § 47 1b AsylG ab. Er sieht darin eine Hierarchisierung und damit Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge. Von einer Prekarisierung der Lebensumstände von Flüchtlingen, die durch dieses Gesetz bis zu zwei Jahre in den Landesaufnahmeeinrichtungen verbleiben müssten, ist unbedingt abzusehen. Weder den Bedürfnissen der Flüchtlinge noch den Entlastungersuchen der Kommunen wird damit Rechnung getragen. Anstelle von Wartelagern braucht es Konzepte zur dezentralen Unterbringung in überschaubaren Einheiten.
Wir sprechen uns dafür aus, allen Flüchtlingen die gleichen Chancen auf Integration zu ermöglichen und den Aufenthalt in den Landeseinrichtungen so kurz wie möglich zu gestalten. Dazu verweisen wir auf das Eckpunktepapier zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen, das 2015 mit der Landesregierung und Vertreterinnen und Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen ausgearbeitet wurden, und empfehlen eine enge Orientierung an den 2016 ergänzten Handlungsempfehlungen. Wir plädieren dafür, Menschen nicht als Last zu betrachten, sondern auf ihre Potentiale – zum Wohle aller in der Gesellschaft – zu setzen. In Zeiten erstarkenden Rechtspopulismus und -extremismus in den Parlamenten und massiver Mobilisationsfähigkeit rassistischer Gruppierungen ist es dringend geboten, deutliche Zeichen für Vielfalt und Gleichberechtigung zu setzen und demokratische Antworten auf Hetzkampagnen gegen Flüchtlinge und andere Migrantengruppen zu finden. Aufgabe der Politik ist es, auch gegen Widerstände eine menschenfreundliche Unterbringung zu gewährleisten und die Bevölkerung von einer humanen Flüchtlingspolitik zu überzeugen.
Zu den Gründen der Ablehnung des Gesetzentwurfes im Einzelnen:
1.
Der Gesetzentwurf lässt die Bedürfnisse der Flüchtlinge in beunruhigender Weise unberücksichtigt. Das Asylrecht ist ein grundgesetzlich verankertes Individualrecht. Der Schutz der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder sonstigen Notlagen fliehen, sollte im Mittelpunkt allen asylrechtlichen Handelns stehen. Die humanitäre Verpflichtung, die sich daraus ergibt, erschöpft sich nicht darin, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Eine Unterbringung in Landesaufnahmeeinrichtungen über einen langen Zeitraum steht dem Grundsatz, Flüchtlingen Schutz zu bieten entgegen, denn die Wohnverhältnisse in diesen Unterkünften wirken sich auf verheerende Weise auf die Lebenssituation der Flüchtlinge aus.
Eine Kurzstudie im Auftrag des Mediendienstes Integration zu Auswirkungen von Anker-Zentren von August 2018 lässt Schlüsse ziehen auch auf Landessammelunterkünfte, die durch ähnliche Merkmale gekennzeichnet sind. Auch das Leben in Landesunterkünften geht oftmals einher mit räumlicher Segregation und damit sozialer, politischer und kultureller Isolation. Die Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkünfte sind dramatisch, wenn dieser Zustand sich auf bis zu zwei Jahre ausdehnt. Geradezu triviale Aktivitäten der alltäglichen Lebensführung, wie Einkaufen, Arztbesuch, Vereinsmitarbeit, sportliche Betätigung oder nachbarschaftlicher Kontakt werden durch schlechte infrastrukturelle Anbindung massiv erschwert. Solange Flüchtlinge verpflichtet sind, in Landesaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, erhalten sie keine Arbeitserlaubnis. Darüber hinaus gilt nach § 3 AsylbLG das Sachleistungsprinzip für elementare Bedarfe wie Ernährung, Kleidung und Verbrauchsgüter. Integrationsangebote gibt es für Flüchtlinge in Landeseinrichtungen kaum und eigenständiges Bemühen um Integration und Selbstständigkeit werden praktisch verunmöglicht.
Von einer bis zu zwei Jahre dauernden zwangsweisen Unterbringung in Landesaufnahmeeinrichtungen sind Flüchtlinge betroffen, deren Asylverfahren andauern oder deren Antrag bereits abgelehnt wurde, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Sie sind also mit permanenter Unsicherheit hinsichtlich ihres Verbleibs in der Bundesrepublik konfrontiert. Bestenfalls befinden sie sich – hoffend auf Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft – in einer langen Warteposition, schlimmstenfalls sind sie der tagtäglichen Angst vor Abschiebung ausgesetzt. Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Unterkünfte wird ein Leben im Ausnahmezustand zugemutet. Es sind Menschen betroffen, die oftmals traumatisiert sind und furchtbare Leidensgeschichten durchlebt haben. Es liegt auf der Hand, dass eine längerfristige Unterbringung in Landeseinrichtungen nicht zuträglich für die Gesundheit von Flüchtlingen ist und Traumata noch verstärkt werden können.
Unter solchen wohnlichen Voraussetzungen sind Konflikte zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Unterkünfte sowie lokaler Bevölkerung beinahe vorprogrammiert. Auseinandersetzungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur, Religion und Alter, die auf engstem Raum in der Unterkunft zusammenleben werden geradezu herausgefordert. Auch für die lokale Bevölkerung können Landesaufnahmeeinrichtungen so zu einer großen Belastung werden.
Nach den Misshandlungsvorfällen in nordrhein-westfälischen Landeseinrichtungen 2015 hat die damalige Landesregierung einen Paradigmenwechsel in der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zugesagt. In allen Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag herrschte Entsetzen über zum Teil menschenunwürdige Bedingungen in den Unterkünften für Flüchtlinge. Das Innenministerium sah sich in der Folge veranlasst, mit Vertretern von NGOs und den kommunalen Spitzenverbänden ein gemeinsames Eckpunktepapier zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zu erarbeiten, das im Mai 2016 durch Handlungsempfehlungen konkretisiert wurde. Unter Punkt 1 des Papiers heißt es:
„Die Landesregierung wird bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung dem Individualrecht auf Asyl Rechnung tragen. Im Mittelpunkt der Erstaufnahme wird der Asylsuchende mit seinen elementaren Interessen und Bedürfnissen, aber auch mit dem selbstverständlichen Anspruch auf menschenwürdige und seinen Bedürfnissen entsprechende Unterbringung, Versorgung und Betreuung stehen.“
Dem Landesintegrationsrat ist nicht bekannt, dass der Konsens, der damals zwischen den an der Entstehung des Eckpunktepapiers Beteiligten gefunden wurde, aufgekündigt wurde.
2.
Des Weiteren ist auch fraglich, ob die angestrebte Entlastung der Kommunen durch die Verpflichtung für Flüchtlinge, bis zu zwei Jahren in Landeseinrichtungen zu wohnen, tatsächlich erreicht wird. Zu befürchten ist, dass mittelfristig das genaue Gegenteil zutrifft.
Nach wie vor dauern Asylverfahren in vielen Fällen zu lang. Insbesondere Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus Afghanistan, Pakistan und Russland müssen nach Informationen des BAMF bis zu 13 Monate auf eine Entscheidung warten. Zudem ist damit zu rechnen, dass viele Flüchtlinge, deren Asylantrag abgelehnt wurde, auf Dauer in Deutschland bleiben werden. So lebten zum Stichtag 30.06.2018 53.366 Personen mit einer Duldung in Nordrhein-Westfalen. Das heißt, 75,5 % aller Ausreisepflichtigen in NRW können nicht unmittelbar abgeschoben werden. Vielen von ihnen leben mit so genannten „Kettenduldungen“ schon seit Jahren, teilweise Jahrzehnten in Deutschland. Sie müssen unter massiv erschwerten Bedingungen Deutsch lernen und Arbeit finden. Die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen mit guter und Flüchtlingen mit schlechter Bleibeperspektive ist somit in der Praxis weitestgehend hinfällig.
Es ist davon auszugehen, dass regelmäßig Flüchtlinge erst nach etlichen Monaten bzw. nach dem Ablauf der maximalen Aufenthaltsdauer von zwei Jahren aus den Landeseinrichtungen in die Kommunen überwiesen werden. Die Anstrengungen der Kommunen, diese Menschen „verspätet“ in die Gesellschaft zu integrieren, dürften ungleich größer sein, als bei Flüchtlingen, die nach kurzem Aufenthalt in den Landeseinrichtungen in den Kommunen ankommen. Sie sind dann mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, Flüchtlinge aufzunehmen, zu versorgen und Teil der Gesellschaft werden zu lassen, denen Integration zuvor bis zu zwei Jahren verweigert wurde und deren Traumata in diesem Zeitraum zum Teil noch verstärkt wurden. Es ist im Interesse der Kommunen, Flüchtlinge möglichst frühzeitig zugewiesen zu bekommen, um eine derartige „nachholende“ Integration und die damit verbundenen Kosten zu vermeiden. Die Landesregierung macht also durch das Ausführungsgesetz zu § 47 1b AsylG ohne Not von einer optionalen Regelung Gebrauch, die die Integration von geflüchteten Menschen mit Migrationshintergrund in vielen Fällen erschwert. Auch mit Blick in die Vergangenheit ist von einer gezielten Ausgrenzung von Flüchtlingen abzuraten. Der Landesintegrationsrat empfiehlt, Lehren aus den Erfahrungen mit der so genannten Gastarbeitergeneration zu ziehen, der vor dem Hintergrund der Annahme, die Menschen seien nur vorübergehend in Deutschland, keine Integrationsangebote gemacht wurden.
Im Übrigen dürften auch Kommunen, in denen die Landesunterkünfte angesiedelt sind, dem Vorhaben negativ gegenüberstehen, die Aufenthaltszeit der Bewohnerinnen und Bewohner auf bis zu zwei Jahre zu verlängern. Die Akzeptanz der lokalen Bevölkerung wird darunter leiden, wenn sie mit der Unterkunft vor allem Flüchtlingsgruppen verbinden, die sich mangels Alternative in der Umgebung der Unterkunft „herumtreiben“. Wie oben erwähnt, werden Konflikten mit Anwohnerinnen und Anwohnern und Vorurteilsbildung Vorschub geleistet.