Rückblick auf die Hauptausschusssitzung
24. Oktober 2022Resolution: Recht auf Zukunft für geduldete Flüchtlinge!
27. Oktober 2022Positionspapier des Landesintegrationsrates NRW – 10/2022
Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland, das gilt gerade für unser Bundesland Nordrhein-Westfalen. Mit den einwandernden Menschen und den nachfolgenden Generationen kom-men auch ihre Sprachen zu uns, die nun ebenfalls zu diesem Land gehören. Hinzu kommen die zahlreichen deutschen Dialekte, die deutlich machen, dass das monolinguale Deutschland schon immer mehr imaginiertes Konstrukt als Realität war. Ohne Frage ist dabei, dass (Hoch)Deutsch die Standardsprache, also unsere zentrale gemeinsame und verbindende Verständigungssprache war und bleibt. Fakt ist aber auch, dass im privaten Bereich hunderte oder mehr Sprachen genutzt werden. Sprache, insbesondere die Erst- oder Muttersprache(n) stehen für jede individuelle Per-son in enger Verbindung mit Identität, Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl. Sie haben aber auch eine gesellschaftliche und sogar eine wirtschaftliche Bedeutung.
Für die Menschen mit internationaler Familiengeschichte ist die Erst-/Muttersprache zumeist die Herkunftssprache, die im Herkunftsland erlernt oder durch die Eltern weitergegeben wurde. Diese Herkunftssprachen gilt es, systematisch zu fördern und die in ihnen liegenden Potenziale für ihre Nutzer/innen und für die gesamte Gesellschaft sinnvoll einzusetzen. Denn die Anerkennung der vorhandenen Sprachenvielfalt ist nicht nur ein Zeichen von Offenheit und Liberalität und ein Akt der Wertschätzung gegenüber allen Menschen mit internationaler Familiengeschichte. Sie sind auch ein auf die Zukunft ausgerichtetes Gebot der Stunde, um im internationalen Wettbewerb in einer globalisierten Welt gut aufgestellt zu sein.
Die Wissenschaft hat diese Themen schon vor vielen Jahren entdeckt und eindeutige Erkenntnisse hervorgebracht, die die Forderungen des Landesintegrationsrates stützen. Auch für die Politik sind die Vorteile von Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht neu und längst wurde ihre Förderung in Geset-zen und Erlassen verankert. Zuletzt hat die neue NRW-Landesregierung von CDU und Grünen die Potenziale der Herkunftssprachen in ihren Koalitionsvertrag benannt und die Ausweitung ihrer Anwendung aufgenommen. So plant sie u.a., Verwaltungsangebote mehrsprachig zu gestalten und den herkunftssprachlichen Unterricht zu stärken. Auch wenn hierbei nicht alle Sprachen berück-sichtigt werden können, hat zumindest die Berücksichtigung der meistgesprochenen Sprachen ins-besondere in Kitas und Schulen eine nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung.
Folgende Gründe sprechen dafür:
• Die Wertschätzung der Herkunftssprache eines Menschen ist gleichzeitig die Wertschätzung der Identität eines Menschen – dies gilt in ganz besonderer Weise bei Kindern und Heranwach-senden.
Die Herkunftssprache ist elementarer Bestandteil kultureller Identität und Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Gruppe oder Nation. Die eigene Identität verbergen oder verleugnen zu müssen beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung negativ und wirkt sich nachteilig auf das Zu-gehörigkeitsgefühl zu Deutschland aus. Das bisherige Dogma „hier wird deutsch gesprochen“ bei Eintritt des Kindes in Kindergarten oder Grundschule kann als grober pädagogischer Fehler bezeichnet werden, der die kindliche Seele und Identität verletzt , und sich auf die gesamte Schullaufbahn auswirken kann. Es entsteht für Kinder und Jugendliche der Eindruck, ein we-sentlicher Teil ihrer Selbst werde abgelehnt. Ein Willkommenheißen der Herkunftssprache stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung. Diese zwei- und mehrsprachigen Kinder und Jugendlichen müssen Anerkennung für ihre sprachlichen Kompetenzen erfahren und dür-fen nicht auf ‚Personen mit Sprachdefiziten in der deutschen Sprache‘ reduziert werden. Wenn sie in der Schule die erste Fremdsprache (z.B. Englisch oder Französisch) erlernen, ist dies be-reits ihre dritte Sprache.
Deshalb ist es von großer Bedeutung, den jeweiligen Herkunftssprachen die gleiche Wertschät-zung entgegenzubringen wie der deutschen Sprache. Diese Wertschätzung sowie die gezielte Förderung der Herkunftssprachen sind Voraussetzung für die Akzeptanz der Sprachen. Die Gleichberechtigung von Sprachen trägt auch zur Gleichberechtigung der sie sprechenden Men-schen bei. Damit kann die Förderung von Mehrsprachigkeit als Mittel gegen die Ausgrenzung ihrer Nutzer/innen eingesetzt werden und sie stellt letztendlich ein Mittel gegen Rassismus dar. So bilden mehrsprachige Kindertagesstätten und Schulen ein positives Gegengewicht zu dem noch verbreiteten ‚monolingualen Habitus‘ (Gogolin) vieler Bildungseinrichtungen und der einseitigen Förderung von wenigen, prestigeträchtigen Sprachen. Auch sollte eine Gesellschaft, die maßgeblich durch Einwanderung geprägt ist, neben der selbstverständlichen Amtssprache Deutsch weitere Sprachen wertschätzen und nutzen.
• Zwei- und Mehrsprachigkeit sind europa- und weltweit in den meisten Ländern der Normalfall – wir leben in einer Welt, in der Mehrsprachigkeit die Norm und Einsprachigkeit der Ausnahmefall ist
Der weitaus größte Teil der Menschheit wächst zwei- oder mehrsprachig auf und lernt im Kindesalter mühelos mehrere Sprachen. Bisweilen herrscht in den europäischen Ländern, insbesondere in den großen, einsprachig geprägten Ländern noch die Meinung vor, Mehrsprachigkeit sei ein Ausnahmefall. Das Gegenteil ist richtig: Einige europäische Länder haben sogar mehrere offizielle Landessprachen wie z.B. die Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch), Belgien (Französisch, Flämisch, Deutsch), Luxemburg (Französisch, Deutsch, Letzeburgisch), Italien (regionalbezogene Amtssprachen wie Deutsch, Ladinisch, Französisch, Slowenisch), Spanien (Baskisch, Katalanisch, Galizisch).
• Die Kindergärten und Schulen sind bereits ‚mehrsprachig‘ – diese Sprachrealität muss aner-kannt und das vorhandene Sprachenpotenzial genutzt und gefördert werden
Heute Lernen in den Schulklassen Schüler/innen, die Deutsch, Arabisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Türkisch oder viele andere Sprachen als Familiensprache bereits sprechen, gemein-sam. Diese vielsprachige Realität bildet die natürliche Ausgangslage für die Bildungseinrich-tungen; diese sollten darin eine Chance sehen, diese Sprachenrealität aktiv nutzen und die Sprachpotenziale von den Kindern und Jugendlichen fördern.
Für das einsprachig aufgewachsene deutschsprachige Kind ist die Beschäftigung mit dieser le-bendigen Mehrsprachigkeit in Kindergarten und Schule ein authentischer und sehr praktischer Zugang zum Fremdsprachenlernen. Dieses beiläufige Mitlernen der von Freund/innen gespro-chenen Sprachen ist für das Kind eine große Chance und damit wesentlich naheliegender als das Erlernen der eher selten hier herkunftssprachlich genutzten Sprachen Englisch oder Fran-zösisch.
• Die gezielte Förderung der Herkunftssprache der Kinder und Jugendlichen begünstigt das Erlernen der deutschen und später weiterer Sprachen
Die hohe Bedeutung der Herkunftssprachen der Kinder und Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte bei Sprachlernprozessen ist bereits lange sprachwissenschaftlich erwiesen, wird jedoch leider immer noch unterschätzt. In verschiedenen Studien (Roth ; Usanova & Schnoor ) wird nachgewiesen, dass eine differenzierte mündliche und schriftliche Beherrschung der Herkunftssprachen die beste Voraussetzung für das Erlernen einer weiteren Sprache, in diesem Fall Deutsch ist. Von Anfang an mehrsprachig orientierte Kinder und Jugendliche erwerben ein differenziertes Bewusstsein von Sprache und verfügen dadurch über eine andere und weniger regelorientierte Art beim Erlernen weiterer Sprachen (Riehl ). Kindern fällt es sogar besonders leicht, nicht nur eine, sondern auch mehrere Sprachen zu lernen, da sie dies alltagsintegriert und intuitiv tun.
Kindergärten und Schulen sollten diesen Effekt der Bildung eines frühen sprachlichen Bewusstseins von Anfang an durch eine konsequente Förderung der Mehrsprachigkeit nutzen (Woerfel ), statt später viel Mühe und Geld zur Vermittlung von Fremdsprachen zu investieren. Denn Kindergärten und Schulen spielen beim Sprachlernprozessen bekanntlich eine elementare Rolle. Es wäre eine Verschwendung bereits vorhandenen Sprachpotenzials Kindern nicht die Möglichkeit zu geben, ihre Herkunftssprache im Kindergarten weiter zu vervollkommnen, um dann später in der Schule das Schreiben bzw. die Grammatik zu lernen.
Diese Form einer frühen Zwei- und Mehrsprachigkeit überfordert auch kleine Kinder nicht, wenn gewisse Regeln eingehalten werden.
• Die Förderung der Herkunftssprache und das parallele Erlernen der deutschen Sprache fördert das metasprachliche Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen, verbessert die kognitive Ent-wicklung und erhöht damit die Chance auf bessere Schulabschlüsse.
Untersuchungen (Cummins , Rauch et al. , Hopp et al. ) stellen Zusammenhänge her zwi-schen der vorhandenen (schriftsprachlichen) Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen und einem größeren metasprachliches Bewusstsein als bei einsprachigen Heranwachsenden. Mehrsprachigkeit hat zudem auch positive Auswirkungen auf andere kognitive Bereiche, die nicht unmittelbar an der Verarbeitung von Sprache beteiligt sind. Sowohl ein hohes Bewusst-sein von Sprache als auch ausgeprägte nonverbale kognitive Leistungen können sich auf das schulische Lernen auswirken und zu besseren Schulabschlüssen beitragen. Beispielhaft belegt das eine Evaluation des bilingualen Lernens an der italienisch-deutschen Grundschule Zugweg in Köln, die von Prof. Hans-Joachim Roth von 2003-2007 geleitet wurde. Die Untersuchung weist nach, dass durch die Einführung eines bilingualen Zweiges der Anteil der Schulempfeh-lungen an Gesamtschulen von 16% auf 35% und an Gymnasien von 15% auf 25% gestiegen ist. Gleichzeitig sank der Anteil von Empfehlungen an die Hauptschule von 40% auf 20%. Festzu-halten bleibt, dass die Bildungserfolge von jungen Menschen mit internationaler Familienge-schichte deutlich gesteigert werden können, wenn ihre Mehrsprachigen Potenziale gezielt genutzt würden.
• Mehrsprachige und interkulturelle Kompetenz sind in einer Zeit der Globalisierung eine zentra-le Qualifikation
Die Kompetenz, eine zusätzliche Fremdsprache zu sprechen, ist in einer globalisierten Welt ei-ne der zentralen Wirtschaftsressourcen. Mehrsprachigkeit fördert multiperspektivisches Den-ken, das in einer zunehmend vielfältigen und internationalen Gesellschaft immer wichtiger wird. Darüber hinaus verfügen mehrsprachig geprägte Menschen – auch wenn sie im konkre-ten Fall die Sprache des Gegenübers nicht sprechen sollten – in der Regel über interkulturelle Kompetenz. Sie können sich leichter in andere Kulturen und Denkweisen hineinversetzen, denn sie haben eine inter/trans-kulturelle Identität und sind flexibler im interkulturellen Agieren. Mit diesen Fähigkeiten können sie wichtige Funktionen als Brückenbauer übernehmen, Miss-verständnissen vorbeugen und zu erfolgreichem Dialog beitragen. Die Förderung natürlicher Mehrsprachigkeit sollte deshalb maßgeblich in der öffentlichen Verwaltung vorangetrieben werden – denn diese muss in der Einwanderungsgesellschaft allen einen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Leistungen ermöglichen und kompetent im Umgang mit interkulturellen Herausforderungen agieren.
Hinweis auf rechtliche Regelungen zur Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit
– Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW vom 01.01.2022: §10, Abs. 1: „[…] Das Land erkennt Mehrsprachigkeit als wichtiges Potential für die kulturelle, wissenschaftliche und wirt-schaftliche Entwicklung Nordrhein-Westfalens und für die Förderung chancengerechter Bildungsteilhabe im Sinne dieses Gesetzes an.“
– Kinderbildungsgesetz NRW (KiBiz) § 19, Abs. 4, S. 1, 2: „Die Mehrsprachigkeit von Kindern ist anzuerkennen und zu fördern. Sie kann auch durch die Förderung in bilingualen Kinder-tageseinrichtungen oder bilingualer Kindertagespflege unterstützt werden.“
– Die EU-Kommission hat in ihrem „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung“ von 1995 die Forderung formuliert, dass alle
Schulabgänger/innen drei Gemeinschaftssprachen beherrschen. Demzufolge sollen Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Schulzeit außer ihrer Erstsprache noch mindestens zwei weitere Sprachen erlernen. Das kann z.B. bedeuten: Deutsch als die Landessprache; als zweite Sprache die Herkunftssprache und Englisch als Weltsprache. Wenn in diese sprachenpolitische EU-Vorgabe die jeweils nichtdeutschen Herkunftssprachen eingebunden werden, dann haben die Schulen eine Perspektive, die den Anforderungen einer Einwanderungsgesellschaft gerecht wird.
Fußnoten
[1] Vgl. Interview mit Andrea-Eva Ewels, Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Internationalen Tag der Muttersprache 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/interview-muttersprache-1721084, abgerufen am 06.07.2022.
[2] In der Publikation Anerkennung von ethnischer Identität und Sprache des Landesintegrationsrates NRW (2020) werden wissenschaftliche Erkenntnisse rund um diesen Themenkomplex ausführlich beleuchtet.
[3] Sofern die Kommunikation nicht auf Deutsch erfolgt, werden in nordrhein-westfälischen Haushalten folgende Sprachen am häufigsten genutzt: Türkisch (24%), Russisch (11,2%), Arabisch (10,1%), Polnisch (8,8%), Rumänisch (3,3%), Italienisch (3,1%). Vgl. Pressemitteilung IT.NRW vom 02.10.2020, https://www.it.nrw/15-prozent-der-personen-haushalten-mit-zwei-oder-mehr-personen-sprechen-nrw-zu-hause-ueberwiegend.
[4] Vgl. Bainski, Christiane: Mehrsprachigkeit – Herausforderung für das Bildungssystem. Gutachten für das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) des Landes Nordrhein-Westfalen, 2018, S. 51.
[5] Roth, H.-J.: „Die Ausgangssprachen mehrsprachiger Kinder berücksichtigen.“ In: Alphabetisierung und Sprachenlernen. Hrsg. v. Thilo Pfitzner. Stuttgart: Klett, 2002, S.121-145.
[6] Usanova, I., & Schnoor, B: „Exploring multiliteracies in multilingual students -multilingual profiles of writing skills.” International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, 2021.
[7] Riehl, Claudia Mari: Ein Kopf − viele Sprachen. Koexistenz, Interaktion und Vermittlung. Hrsg. v. C.M. Riehl mit J. Müller-Lancé. Aachen, 2002.
[8] Woerfel, Till: Mehrsprachigkeit in Kita und Schule. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, 2002
[9] Cummins, J.: „Language, power, and pedagogy: Bilingual children in the crossfire. Bilingual education and bilingualism.” Clevedon: Multilingual Matters, 2000.
[10] Rauch, D. P., Naumann, J.& Jude, N.: „Metalinguistic awareness mediates effects of full biliteracy on third-language reading proficiency in Turkish–German bilinguals.” International Journal of Bilingualism, 2022; 16(4) 402–41.
[11] Hopp, H., Vogelbacher, M., Kieseier, T. & Thoma, D.: „Bilingual advantages in early foreign language learning: Effects of the minority and the majority language.” 2019, Learning and Instruction (61), 99-110.
[12] Vgl. Koch, Nikolas. „Potenzial Mehrsprachigkeit!? Ein Blick auf den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und kognitiven Fähigkeiten bei Kindern.“ Unveröffentlichter Aufsatz, München 2019.
[14] Vgl. „Sprachstark – Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Grundlagen und Handlungsfelder.“ Bzreg. Köln, August 2019, S. 47f. https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/publikationen/abteilung04/pub_abteilung_04_demek_interkulturalitaet.pdf, abgerufen am 30.06.2022. [1] Schüler/innen mit internationaler Familiengeschichte verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss als Schüler/innen ausschließlich deutscher Herkunft, vgl. Chancenland Nordrhein-Westfalen. Teilhabe- und Integrationsbericht 2021. Hrsg.: Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, November 2021. Grafiken auf S. 112ff.
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